Musiktheater: Bizet in Drag

Wieder so eine vermeintlich leer gespielte Figur aus dem Fundus des kollektiven Imaginären. Am Zürcher Schauspielhaus hat die Gruppe Moved by the Motion unter der Regie von Wu Tsang schon dem alten Holzbengel Pinocchio zu ganz neuem Glanz verholfen, ohne den Stoff zu verramschen (siehe WOZ Nr. 43/22). Jetzt, als letzte Premiere unter der Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, ist Carmen an der Reihe. Aber welche Carmen genau, oder besser gesagt: wie viele von ihnen?
Die gleichnamige Oper von Georges Bizet wird ja derzeit auch am Opernhaus Zürich und am Theater Basel gespielt. In der freieren Bearbeitung im Schiffbau teilen sich von Anfang an gleich drei Carmens die Bühne mit dem Collegium Novum: eine singende, als furioser Mezzosopran (Asude Karayavuz), eine sprechende, als abgebrühte Dragqueen (Benjamin Radjaipour), und eine tanzende fast ohne Worte, als Zombie im langen, blutroten Samtkleid (Tosh Basco). Femme fatale und «oiseau rebelle», stolze Queen der Roma und letztlich Opfer mörderischer Männlichkeit: Als Projektionsfläche für allerhand Fantasien ist Carmen immer eine Frau im Plural.
In der Bearbeitung von Sophia Al-Maria (Text) und Andrew Yee (Musik) geht diese «Carmen» aber auch zurück zur literarischen Vorlage von Prosper Mérimée, indem sie die Rahmenhandlung aus dessen Novelle in unsere Gegenwart holt. Eine junge Doktorandin (Perle Palombe) stellt ihr Forschungsprojekt vor: Mittels forensischer Archäologie will sie ein Massengrab aus dem Spanischen Bürgerkrieg aufspüren – doch bei ihrer zynischen Professorin (Alicia Aumüller) läuft sie damit auf, denn die Geldgeber der Uni wollen die blutige Vergangenheit lieber ruhen lassen. Die verschiedenen Ebenen dieser Anlage finden erst nach der Pause so richtig zueinander. Bis dahin laufen sie lange nebeneinander her, so wie auch die Figuren, die Basco fast unentwegt vor sich hin tanzt, meist marginal bleiben – bis rundum alles stillsteht und nur noch diese untote Carmen weiterdreht, immer in Bewegung, bis zum Kollaps.