Psychografie der Schweiz: Geistlose Landesvermessung
Gratulation der Firma Demoscope. Seit vierzig Jahren vermisst das Marktforschungsunternehmen aus Adligenswil alljährlich «das psychologische Klima der Schweiz». Da der ausführliche Wortlaut der Studie jeweils nur für einen vierstelligen Geldbetrag in Erfahrung zu bringen ist, sparen wir uns die Kosten und lassen uns auf die öffentlich einsehbare Zusammenfassung ein. Die spektakulärste Erkenntnis: «Individualismus und Hedonismus» haben sich ausgetobt, selbst die «Verträumtheit» der Jugend ist überholt. Adligenswil vermeldet: generationenübergreifende Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung. Landesweiter «Drang nach Sicherheit».
Wer nun aber denkt, dass daraus «die Wahrheit im Lande» (Georg Büchner) erkennbar würde, sieht sich getäuscht. Die Psychografie zeichnet sich durch die Abstinenz sozioökonomischer Analysen aus. Verhältnisse haben keinen Platz. Stattdessen obskure Kausalitäten. Als Grund für die Abnahme von Individualismus sehen die MarktforscherInnen eine epochale Zeitenwende: «Das Zeitalter der Befreiung von überholten Autoritäten ist vorbei.»
Was damit effektiv vorbei sein soll (die Herrschaft von oder der Widerstand gegen Autoritäten), bleibt offen. Vielmehr stellen sich neue Fragen: Haben wir uns nun von alten Autoritäten befreit – oder lassen wir uns von neuen Herrschaften bestimmen, die derart verkleidet sind, dass sie von der Marktforschung nicht als solche erkannt werden?
Natürlich sind solche Fragen irrelevant. Schliesslich haben wir es mit einer Methode zu tun, die gesellschaftliche Phänomene primär marktwirtschaftlich versteht. Wie sonst könnte sich ein Marktforschungsinstitut anmassen, die Psychografie eines Landes zu übernehmen? Gefragt sind nicht real existierende Verhältnisse und ihre Widersprüche. Sondern Werthaltungen. Diese nämlich, so Demoscope, «stellen sich immer häufiger als entscheidende Bestimmungsfaktoren für das Kaufverhalten heraus».
Man darf gespannt sein, mit welchen Produkten die Wirtschaft auf die neusten Erkenntnisse reagiert. Und was bald schon auf politischen Plakaten erscheint.