Die Macht und ihre Gespenster: «Durch das Prisma des Komplotts wird alles wieder lesbar»
Was steckt dahinter? Eine wichtige Frage, die aber gefährlich verkürzte Antworten zeitigen kann, sagt Donatella Di Cesare. Die Philosophin erklärt, wie der Glaube an Komplotte mit politischen Ohnmachtsgefühlen zusammenhängt und warum sie sich im postfaschistisch regierten Italien nicht mehr frei fühlt.

WOZ: Donatella Di Cesare, Ihr Buch «Das Komplott an der Macht» wurde 2021 erstmals auf Italienisch publiziert. Heute liest es sich immer noch wie eine aktuelle Gegenwartsdiagnose. Warum glauben immer mehr Menschen an wirkmächtige Komplotte, also daran, dass es eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gibt?
Donatella Di Cesare: Donatella Di Cesare: Ich würde nicht von einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit sprechen. Es ist vielmehr eine Welt hinter der Welt, auf die verwiesen wird: Die Welt besitzt eine verborgene Seite, eine Hinterwelt. Dieses Konzept ist für den Komplottismus entscheidend: Man glaubt an ein geheimes Reich, in dem die Fäden gezogen werden, in dem klandestine Aktivitäten stattfinden, Pläne geschmiedet, Informationen manipuliert, Gedanken kontrolliert werden. Im okkulten Intrigenspiel dieser Hinterwelt liegt die Stätte der Macht. Wie durch Magie wirkt dort alles klar und erleuchtet, alles hat ein festes Fundament und eine Ursache. Man kann dort die globale Unordnung hinter sich lassen. Durch das Prisma des Komplotts wird alles unversehens wieder lesbar.
Die mutige Philosophin
Donatella Di Cesare ist eine der wichtigsten Intellektuellen Italiens. Die Professorin und Autorin zahlreicher Bücher zu Philosophie, aber auch zu drängenden Gegenwartsfragen lehrt Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom. Regelmässig meldet sie sich in politischen Debatten zu Wort. In einer Talkshow im italienischen Fernsehen 2023 sagte Di Cesare über Giorgia Melonis Landwirtschaftsminister, er rede wie ein «governatore neo hitleriano»: wie ein Gauleiter. Der Minister verklagte sie wegen Verleumdung. Im Mai 2024 wurde die Klage von einem Römer Strafgericht abgewiesen. Bei einer Verurteilung hätte der heute 69-Jährigen eine Gefängnisstrafe gedroht.
Ihre zuletzt auf Deutsch erschienenen Essays behandeln Themen wie «Philosophie der Migration» (2021 bei Matthes und Seitz), die Holocaustleugnung («Wenn Auschwitz negiert wird», 2024 im Passagen-Verlag) und das im Interview erwähnte «Das Komplott an der Macht» (2022 bei Matthes und Seitz). Darin zeigt Di Cesare unter anderem auf, wie im Zeitalter der Globalisierung alte Verschwörungsszenarien reaktiviert werden.
WOZ: Woher stammt dieses Denken?
Donatella Di Cesare: Es hat eine längere historische Tradition. In meinem Buch versuche ich, die «Urszene» in der Literatur zu rekonstruieren. Aus der unüberschaubaren Masse an literarischen Texten lassen sich drei Erzählungen herauskristallisieren, die im politischen Imaginären eine mythologische Bedeutung erlangt haben. Sie handeln von drei Komplotten: dem jüdischen, dem jesuitischen und dem freimaurerischen. Während das jesuitische sich erschöpft hat, überlagern sich die anderen beiden und werden zum «jüdisch-freimaurerischen» Komplott.
WOZ: Gibt es konkrete literarische Texte, die Sie nennen können?
Donatella Di Cesare: Die eine Erzählung stammt aus der Feder von Hermann O. F. Goedsche, einem ehemaligen preussischen Postsekretär, der 1868 den sehr mittelmässigen Roman «Biarritz» veröffentlichte. Darin findet sich ein Kapitel, das mit «Die Rede des Rabbiners» überschrieben ist. Aus diesem Kapitel sind auf verschlungenen Wegen die «Protokolle der Weisen von Zion» entstanden. Dieser Mythos, der die Shoah angestossen und begleitet hat, ist bis heute der Hebel einer antisemitischen Mobilisierung. Ich könnte weitere Beispiele anführen wie Alexandre Dumas’ Freimaurerroman «Joseph Balsamo» von 1846/47. In all diesen Erzählungen kommt das Komplott stets von anderswo. Fremde dringen in das eigene Innere ein: Einwanderer, Migrantinnen, aber auch Bankiers, Plünderer und Vagabundinnen. Und hinter dem Netz hält «der Jude» als der Fremde aller Fremden die Fäden in der Hand, verborgen, unsichtbar und ungreifbar, über- und untermenschlich zugleich.

WOZ: Ideengeschichtlich würden Sie die Entstehung dieser Verschwörungstheorien also im 19. Jahrhundert verorten, aber mit anhaltenden Folgen für die Gegenwart?
Donatella Di Cesare: Wäre der Komplottismus ein Restbestand der Vergangenheit, müsste er sich zunehmend erschöpfen. Wir sehen, dass das Gegenteil der Fall ist. Es gibt eine innige Verbindung zwischen Komplott und Demokratie. Das Schlüsselwort «Macht» kann dafür Erklärungen liefern. Nach der Französischen Revolution ist das Volk endlich souverän. Wo aber ist seine Macht? Zuvor hatte sie sich im Körper des Königs verdichtet, nun weiss man nicht mehr, wo man sie wiederfinden kann. Sie wirkt vorübergehend und flüchtig. Die Macht des Volkes ist die Macht von niemandem. Genau darin hat Claude Lefort den revolutionären Zug der Demokratie gesehen und von einer «Leerstelle der Demokratie» gesprochen.
WOZ: Was bedeutet das?
Donatella Di Cesare: Es fehlt ein Fundament, es gibt Spaltungen, Öffnungen: Innerhalb der demokratischen Gemeinschaft kann sich das Volk nur in einem symbolischen Sinn für souverän erklären, nicht aber in einem substanziellen und identitären. Was so viel heisst wie, dass es den Ort der Macht nicht besetzen kann und dieser leer zu bleiben hat. Man kann das Staunen der neuen demokratischen Bürger gegenüber dieser neuen politischen Form nachvollziehen. Und man versteht auch, warum diese Leere mit allerlei Gespenstern gefüllt wird. Diese Versuchung besteht heute mehr denn je.
WOZ: Warum ist das so?
Donatella Di Cesare: Zweifellos erscheint die Macht heutzutage als zunehmend flüchtiger, allgegenwärtiger, netzförmiger, immer stärker auf die Kanäle der Technik und die Flüsse der Ökonomie projiziert, sie wirkt zentrums- und womöglich auch richtungslos. Sie hat kein Gesicht, keinen Namen, keinen Ort. Man spürt nur ihre diffuse Präsenz – was die Unsicherheit und den Verdacht weiter anwachsen lässt. Von der Wirkung schliesst man auf eine Ursache. Deshalb fühlt man sich ohnmächtig. Dieses Gefühl der Ohnmacht lässt sich jeden Tag erfahren. Jeden Abend sehen wir in den Nachrichten, was los ist in der Welt, lauter Kriege und Krisen aller Art. Doch wir haben den Eindruck, dass wir all das nicht ändern können. Wir sind ein Demos ohne Macht, ohne Kratos – also eigentlich keine Demokratie mehr.
WOZ: Aber wenn ich mich als machtlos wahrnehme und dann eine Figur konstruiere, die in der Hinterwelt die Fäden zieht, gibt mir das ja noch keine Macht zurück, oder? Ich bleibe weiterhin machtlos.
Donatella Di Cesare: Ich muss betonen: Es ist meistens nicht einfach eine Figur. Und es gibt ja durchaus auch stichhaltige Gründe für die Annahme dieser Hinterwelt. Seit Jahren erleben wir etwa eine Entleerung der Demokratie. Die Politik ist nur noch «Governance», eine Verwaltung der Ökonomie geworden. Insofern ist der Komplottismus Ausdruck eines diffusen Unbehagens. Er verweist auf die Krise der Demokratie. Wie viele gebrochene Versprechen! Wie viele verratene Hoffnungen!
WOZ: Aber bedeutet Demokratie nicht eigentlich Regierung oder «Souveränität des Volkes»?
Donatella Di Cesare: Und doch fühlt sich dieses souveräne Volk alles andere als souverän. Die demokratische Macht scheint ihm zu entgleiten. Und das ist auch nicht nur ein Verdacht: Die Demokratie scheint oft völlig illusorisch. Die Regierungen wechseln, Parteien lösen einander ab, aber es ändert sich nichts wirklich. Zurück bleibt der sogenannte Deep State, also jene institutionelle Macht, die sich dank der Kasten, Lobbys, Banken, Dynastien und einiger Medienkonzerne intakt halten und verstetigen kann. Deshalb würde ich auch nicht nur von einer Fantasie sprechen.
WOZ: Was kann man diesem gefährlichen politischen Ohnmachtsgefühl entgegensetzen?
Donatella Di Cesare: Das weiss ich nicht. Problematisch ist sicher jenes Ressentiment, das es uns erlaubt, in der eigenen Ohnmacht zu schwelgen. Das ist das neue Opium des Volkes. Doch dabei wird die eigene politische Ohnmacht nur bestätigt. Teilnahme am demokratischen Prozess ist der Weg. Aber zunächst müssen wir über den Komplottismus als wichtiges Zeichen nachdenken. Ich kann nur sagen, dass das Ressentiment sich genau dort durchsetzt, wo das Prinzip Hoffnung schwindet.
WOZ: Können Sie das etwas ausführen?
Donatella Di Cesare: Der Komplottismus ist weder ein mentaler Krampf noch bloss eine Postwahrheit. Eine solche Stigmatisierung ist irreführend und unwirksam. In letzter Zeit hat sich ein Antikomplottismus etabliert, der den Besitz der Wahrheit allein für sich reklamiert und andere als deviant, irrational und gefährlich eingestuften Theorien pauschal ins Lächerliche zieht und delegitimiert. Ein solcher allzu verkürzter Antikomplottismus läuft Gefahr, die Fronten zwischen «offizieller» und «verborgener» Wahrheit weiter zu verhärten. Im Grunde sind wir alle Komplottistinnen und Komplottisten – das müssen wir zugeben. Denn wir alle fragen, wenn wir von einem neuen Ereignis hören: Was steckt dahinter?
WOZ: Eigentlich eine unschuldige Frage.
Donatella Di Cesare: Sicher! Und es ist eine wichtige Frage. Das Problem entsteht dann, wenn die fragende Skepsis in dogmatische Gewissheit umschlägt.
WOZ: Lassen Sie uns das Thema der Politik noch etwas weiterverfolgen: Von der Krise der Demokratie, die Sie erwähnt haben, und von den Ohnmachtsgefühlen, die viele Leute empfinden, profitieren heute vor allem rechte Politiker:innen. Gibt es eine Verbindung zwischen Verschwörungsdenken und Rechtsrutsch?
Donatella Di Cesare: Unbedingt. Ich würde es so sagen: Wir erleben gerade eine starke Entpolitisierung. Was bedeutet Entpolitisierung? Sie bedeutet zum Beispiel, dass wir an den Wahlen nicht mehr teilnehmen, was in vielen europäischen Ländern ein Problem ist.
WOZ: Warum gehen die Leute nicht mehr wählen?
Donatella Di Cesare: Es ist nur ein Symptom. Die eigentliche Entpolitisierung ist der Verlust der Polis, das heisst der Verlust der Politik als politischer Gemeinschaft. Die politischen Bindungen gehen verloren. Insofern ist es ein sehr gefährliches Phänomen. Man könnte sogar zugespitzt sagen, dass die Entpolitisierung bereits das Symptom eines neuen autoritären Regimes ist. Im Trumpismus sehen wir diese neue Form. Wir glauben nicht mehr an die Politik und an die Demokratie.
WOZ: Woran glauben wir denn stattdessen?
Donatella Di Cesare: Also ich glaube an die Politik und an die Demokratie. Deshalb versuche ich, auf die Gefahren hinzuweisen, und ich möchte auch den radikalen Sinn der Demokratie zurückgewinnen.
WOZ: Das klingt gut. Gibt es konkrete politische Bewegungen, die Sie vor Augen haben, die das auch versuchen?
Donatella Di Cesare: Es ist nicht meine Aufgabe, den konkreten Weg aufzuzeigen. Ausserdem, was bedeutet schon «konkret» oder «praktisch» und was «theoretisch»? Ich bin Philosophin, keine Politikerin. Meine Aufgabe ist es, nachzudenken. Denken ist, wie wir wissen, sehr gefährlich, das sagte schon Hannah Arendt. Und Denken ist heute wichtiger denn je.
WOZ: In Ihrem Buch schreiben Sie entsprechend, dass Komplotte immer auch Sinnkonstrukte sind, Erklärungen, einfache Erzählungen, die Schuldige benennen und so weiter. Für eine funktionierende Demokratie wären wir aber auf komplexere Sinnstiftungen angewiesen.
Donatella Di Cesare: Ich spreche von einer «Unlesbarkeit der Welt». Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Der Faden der Erzählung ist gerissen. Es bleibt nur eine schwer zu entwirrende Intrige. Komplottisten sind gewissermassen Nostalgiker der Lesbarkeit. Sie hegen die Illusion, alles erklären zu können. Die Intrige, als deren Opfer sie sich sehen, lässt sich so aufklären. Deshalb verfängt bei ihnen die politische Strategie der neuen Rechten, die auf die einfache Abkürzung eines Täters verweist und Angst schürt.
WOZ: Das heisst, die neue Rechte regiert mit der Angst der Leute?
Donatella Di Cesare: Man könnte wirklich von einer Phobokratie sprechen. Die Macht wird durch den Phobos, durch die Angst, ausgeübt. Dies charakterisiert die Regierung der neuen Rechten. Sie versprechen einen Schutz, den sie nicht bieten können. Mehr noch: Sie rufen absichtlich Ängste hervor, schüren den Hass, konstruieren Feinde. Xenophobie und Komplottismus sind grundlegende Aspekte ein und derselben Abneigung gegen das «Äussere» und Fremde. Was macht Trump? Was macht Georgia Meloni? Was macht Viktor Orbán? Sie identifizieren einen Täter, der als schuldig gelten kann: der Mexikaner, die trans Person, die Feministin, der Migrant. Komplottismus ist eine unmittelbare Reaktion auf die Komplexität dieser Welt. Aber statt eine Lösung zu finden, verweist man ständig auf einen Sündenbock. Das ist eine politische Strategie, die sich leider durchsetzt. Wir erleben es jeden Tag.
WOZ: Weil Sie Georgia Meloni erwähnt haben: Wie würden Sie ihre Regierung beschreiben?
Donatella Di Cesare: Für mich ist Meloni etwas anderes als Trump. Sie kommt aus einer radikalen italienischen Rechten und ist in jeder Hinsicht eine Postfaschistin. Wir haben eine postfaschistische Regierung. Am Anfang war dies für mich – und nicht nur für mich – traumatisch. Gerade in Italien, dem Land von Mussolini, wo der Faschismus einst geboren wurde, entsteht nach hundert Jahren die erste postfaschistische Regierung in Europa. Das möchte ich zunächst betonen. Aber gleichzeitig muss ich mich fragen: Ist Italien wie Ungarn? Ich war neulich in Ungarn und kann antworten: absolut nicht.
WOZ: Warum nicht?
Donatella Di Cesare: Weil Italien zugleich eine grosse linke Tradition und immer noch eine grosse Linke hat. Aber leider ist diese Linke nicht ausreichend repräsentiert.
WOZ: Was heisst das?
Donatella Di Cesare: Ich habe in letzter Zeit oft von einer «diffusen Linken» gesprochen. Ich würde nicht sagen, dass Italien ein Land ist, das eindeutig nach rechts gekippt ist. In Italien gibt es eine ganze Menge Leute, die links sind. Es wird jeden Tag demonstriert. In vielen Städten gibt es Proteste, Widerstand, Demos. Unzählbar viele. Es gibt also in Italien einen grossen Widerstand. Und natürlich ist Italien ein gespaltenes Land, aber das war es schon immer. Das ist auch ein bisschen unsere Geschichte. Ob die Linke in der Zukunft in der Regierung vertreten sein wird, ist nicht einfach zu sagen. Denn es ist schwierig, eine gute Migrationspolitik zu machen. Wir haben auch ein grosses Problem mit der Armut. Wir haben eine starke Abwanderung von jungen Leuten. Zugleich haben wir ein grosses demografisches Problem. Es gibt also all diese sehr komplizierten Probleme. Und ich fürchte, dass die Kriege und dieser Aufrüstungsplan von einem «Rearm Europe» grosse und negative Konsequenzen in Italien haben werden.
WOZ: Sie sind ja selber Opfer der Regierung Meloni geworden (vgl. «Die mutige Philosophin»). Wie sehen Sie die Situation der Intellektuellen in Italien heute?
Donatella Di Cesare: In den vergangenen Jahren wurden einige Intellektuelle in Italien angezeigt. Ein Prozess nach dem anderen fand statt, darunter meiner, der von Luciano Canfora, einem Historiker, der des Schriftstellers Roberto Saviano und weitere. Seither ist es schwieriger geworden, in der Öffentlichkeit zu sprechen, das muss ich zugeben. Ich spreche selber ja sehr oft in der Öffentlichkeit, im Fernsehen, in öffentlichen Debatten. Und ich habe mich gerade in letzter Zeit oft gefragt: Fühle ich mich noch so frei wie vorher?
WOZ: Und wie lautet Ihre Antwort?
Donatella Di Cesare: Ich würde sagen: Nein. Ich fühle mich nicht mehr so frei wie zuvor. Und ich werde mich wahrscheinlich auch nicht mehr frei fühlen. Ich habe auch das Vertrauen verloren. Trotzdem spreche ich weiter, wie andere Intellektuelle auch. Und ich sage fast jeden Tag, was man nicht hören will, nämlich dass wir eine «postfaschistische Regierung» haben. Aber natürlich merke ich, dass sich die Meinungsfreiheit in Italien stark reduziert hat. Alle empfinden es so.
WOZ: Sie haben kürzlich einen offenen Brief gegen die Rückkehr des Faschismus unterschrieben. Können Sie sagen, wo Sie heute Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zum historischen Faschismus sehen?
Donatella Di Cesare: Das ist eine wichtige Frage. Im Unterschied zu anderen Interpretinnen und Politologen bin ich überzeugt, dass eine Kontinuität besteht zwischen dem historischen Faschismus und dem Postfaschismus. Es gibt Unterschiede, aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. Ich möchte nur eine davon erwähnen, und das ist der Versuch, den Demos auf den Ethnos zu reduzieren. Die Hauptgefahr von Trumps Amerika oder Melonis Italien oder Orbáns Ungarn ist für mich, dass die Demokratie zur Ethnokratie wird. Das heisst, die ethnischen Grenzen werden ständig hervorgehoben und verteidigt. Und das ist das, was wir im Nationalsozialismus gesehen haben und im Faschismus Mussolinis. Es reicht, die Nürnberger Gesetze von 1935 und die italienischen Rassengesetze von 1938 zu erwähnen. Diese Deutung des Demos als Ethnos ist die wichtigste Gemeinschaft mit dem historischen Faschismus, und es ist heute entscheidend etwa für die Politik der Migration oder für das Staatsbürgerrecht. Wir haben zum Beispiel in Italien ein reaktionäres Bürgerrechtsgesetz.
WOZ: Können Sie auch noch einen Unterschied benennen?
Donatella Di Cesare: Es gibt viele Unterschiede. Nur schon vom historischen Kontext her, der ganz anders war. Entscheidend scheint mir die Tatsache, dass Melonis Postfaschismus sich in einem demokratischen Kontext ausbreitet, den er dennoch zu verändern sucht.
WOZ: Eine heute verbreitete Gefühlslage, die von den Rechten sehr eifrig bewirtschaftet wird, sind Ressentiments. Warum lassen sich die mächtigen Ressentiments so schwer für eine progressive Politik in Dienst nehmen?
Donatella Di Cesare: Natürlich könnten Ressentiments auch für eine linke Politik «benutzt» werden. Wir haben Ressentiments, etwa wenn wir meinen, wir sind Opfer einer Ungerechtigkeit. Das Ressentiment ist eine politische Emotion, und es ist in diesem Sinn auch begründet. Die Schwierigkeit für die Linke liegt darin, das individuelle Ressentiment zu «verarbeiten», damit dieses Ressentiment für ein gemeinsames politisches Projekt elaboriert und artikuliert wird.
WOZ: Die Rechten verarbeiten solche Ressentiments in eine populistische Politik. Sie erwähnen in Ihrem Buch Ernesto Laclau, der zusammen mit Chantal Mouffe den Populismus auch für die Linke als emanzipatorische Kraft definiert hat. Wie stehen Sie zum Populismus?
Donatella Di Cesare: Die Frage nach dem Populismus ist schwierig. In Melonis Sicht von Italien gibt es eine unmittelbare Beziehung zwischen der Regierungschefin und dem Volk. Wozu braucht es da noch die Presse? Wozu die Intellektuellen? Ich und das Volk: Das ist Melonis populistisches Modell. Aber ich bin auch mit Ágnes Heller einverstanden, der ungarischen Philosophin, die am Ende ihres Lebens unermüdlich gegen Orbán gekämpft und das Phänomen des Orbanismus analysiert hat. Mit ihr würde ich sagen, dass der Orbanismus kein Populismus, sondern ein Ethnosouveränismus ist. Orbán schürt vor allem den Hass gegen Ausländer und überhaupt alle «Andersartigen».
WOZ: Gibt es auch einen linken Populismus?
Donatella Di Cesare: Um populistisch zu sein, reicht die viel gepriesene Nähe zum Volk nicht aus. Man darf auch nicht vergessen, dass Populismus eine Geschichte hat und in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck kommt – insbesondere im lateinamerikanischen Kontext. Es geht nicht so sehr um eine Ideologie als vielmehr um einen politischen Stil, der darin besteht, die Massen gegen die Eliten zu mobilisieren. Populismus kann deshalb auch linksgerichtet sein, und er kann vor allem eine Alternative zur herrschenden Krise eröffnen. Mit Recht hat der französische Politologe Jacques Rancière das Wort «Populismus» als Etikett für die Legitimitätskrise der Politik bezeichnet. Während Linkspopulisten sich an das Volk, an die ärmsten Schichten wenden, um ihre Forderungen wieder neu zu beleben, bedient sich Orbán einer nationalpopulistischen Rhetorik. Und so, wie er und die neue Rechte den Populismus benutzen, spreche ich lieber von einem Souveränismus oder, wie gesagt, von einem Ethnosouveränismus, weil ich denke, dass es präziser ist.