Kriminalisieren im nordischen StilSeit 2016 bestraft Frankreich den Kauf von Sex. Schaden tut das vor allem den Sexarbeiter:innen.
Cybèle Lespérance führt eigentlich ein unscheinbares Leben. Zusammen mit ihrem Mann wohnt sie in einem kleinen Eigenheim in einer Kleinstadt in der Nähe von Lyon. Doch manchmal fragt sich Lespérance: Wird sie von der Polizei beobachtet? Könnten ihr Mann und sie sich plötzlich strafbar machen?
Lespérance ist Sexarbeiterin. Sie begann mit diesem Job während des Studiums in ihrem Geburtsland Kanada, um Schulden abzuzahlen. Vor knapp zehn Jahren zog sie nach Frankreich zu ihrem Mann. «Nach der Hochzeit habe ich mit Sexarbeit aufgehört, aber nach einem Jahr wieder angefangen, weil ich es vermisst habe», erzählt sie. Lespérance bezeichnet sich selber als behindert, sie leidet unter chronischen Schmerzen und manischer Depression. Die sehr flexible Sexarbeit ist für sie auch eine Art, damit umzugehen.
Warnende Stimme aus Frankreich
Ihre Kunden, meist sind es Männer, findet sie über Inserate oder ihre Website. Einige sind Bauern aus der Umgebung, andere Saisonarbeiter in Skiresorts in den Alpen, die anreisen, um Lespérance zu treffen. Doch es ist unter den herrschenden Gesetzen in Frankreich fast nicht mehr möglich, dieser Arbeit legal und auch sicher nachzugehen.
Wir treffen uns auf der Terrasse eines rustikalen Gasthofs in einem gesichtslosen Vorort von Bern. Die französischen Gesetze sind mit der Grund, warum Lespérance gerade in der Schweiz ist. Sie ist auch Aktivistin, war Generalsekretärin und Sprecherin des Syndicat du travail sexuel (Strass), der französischen Gewerkschaft der Sexarbeiter:innen, und betreibt heute tullia.fr, eine Plattform, die über Sexarbeit aufklärt. In der Schweiz nimmt sie an einem Austausch mit lokalen Organisationen teil, die sich für die Rechte von Sexarbeiter:innen einsetzen.
Mit Blick auf die Lage in Frankreich will sie die Kolleg:innen in der Schweiz auch warnen: «Ihr habt hier noch vergleichsweise liberale Gesetze – aber das kann sich schnell ändern, man darf sich nicht darauf ausruhen.»
2016 trat in Frankreich das Gesetz zur «Bekämpfung des Prostitutionssystems» und zur «Unterstützung der Prostituierten» in Kraft. Das Gesetz ist nach dem sogenannten nordischen Modell konzipiert. Im Kern bedeutet das, dass der Kauf sexueller Dienstleistungen verboten, deren Verkauf aber legal ist. Durch die Kriminalisierung der Kunden soll die Nachfrage nach käuflichem Sex sinken und die Sexarbeit insgesamt eingedämmt werden. Seinen Namen trägt das Modell, weil es massgeblich in Schweden geprägt wurde, wo ein ähnliches Gesetz bereits 1999 in Kraft getreten ist. Sieben weitere Länder, darunter Norwegen, Irland und Kanada, haben sich das schwedische Gesetz seither zum Vorbild genommen.
Die Befürworter:innen argumentieren, das nordische Modell treffe vor allem die mehrheitlich männlichen Kunden, stärke hingegen die Sexarbeiter:innen. So schreibt die US-Rechtswissenschaftlerin Catharine MacKinnon, eine der bekanntesten Antiprostitutionsfeministinnen, mit Blick auf das Verhältnis von Sexarbeiterin und Kunde unter dem schwedischen Gesetz etwa: «Die Beseitigung ihrer Kriminalität erhöht ihren Status; seine Kriminalisierung mindert seine Privilegien.»
Diese Position ist in der französischen Politik, die auch vor der Gesetzesänderung von 2016 einen eher restriktiven Umgang mit Sexarbeit pflegte, die vorherrschende Meinung – und progressive Kreise haben massgeblich zu dem Gesetz beigetragen. «Uns wird ständig gesagt, unsere Arbeit werde ja nicht kriminalisiert», sagt Lespérance, «aber in der Realität sind die Konsequenzen so ziemlich die gleichen.»
Neben lokalen Gesetzen, die Sexarbeiter:innen direkt kriminalisieren, indem sie diese zum Beispiel aus bestimmten Zonen von Städten verbannen, ist im nationalen Gesetz der Begriff der Zuhälterei («proxénétisme») entscheidend. Dieser wird im französischen Gesetz sehr umfassend definiert und gibt Gerichten und Polizei viel Interpretationsspielraum. Neben dem erwartbaren Verbot, Sexarbeit zu erzwingen oder auszubeuten, ist es auch strafbar, in irgendeiner Weise von Einkünften aus der Prostitution anderer zu profitieren oder «die Prostitution anderer zu unterstützen, zu fördern oder zu schützen».
«Mein Mann und ich reden ständig über Zuhälterei», sagt Lespérance. «Wenn ich mehr verdiene als er, profitiert er von meinem Einkommen – er könnte sich strafbar machen. Auch wenn ich ihm aus Sicherheitsgründen sage, wann und wo ich einen Kunden treffe, unterstützt er meine Arbeit. Manchmal wäscht er die Bettwäsche, die ich zum Arbeiten brauche, darum nenne ich ihn im Scherz meinen ‹sheet pimp›, meinen Wäschezuhälter.»
Dass sie über die Sache lachen kann, hat auch damit zu tun, dass sie als relativ privilegierte, französisch gelesene Person, die nicht in einer grösseren Stadt arbeitet und ausserdem öffentlich bekannt ist, kaum ins Visier der Polizei geraten wird. «Ich bin gut vernetzt und informiert, kenne die gängige Praxis und kann mich entsprechend verhalten, aber Sexarbeiter:innen, die unter prekären Umständen tätig sind, können das nicht», betont Lespérance.
Eine Zunahme von Gewalt
Die weite Definition von Zuhälterei bedroht vor allem die Sicherheit vieler Sexarbeiter:innen. So ist es zum Beispiel verboten, dass sich zwei Sexarbeiter:innen eine Wohnung für den Job teilen, was eine gängige Sicherheitsmassnahme ist. Ein Vermieter wiederum macht sich strafbar, wenn er weiss, dass eine Sexarbeiterin in ihrer Wohnung arbeitet, und ihr trotzdem nicht kündigt – das macht sie verwundbar, wenn etwa ein Kunde oder Expartner sie unter Druck setzen will. Strafbar machen kann sich auch eine Firma, die einer Sexarbeiterin einen digitalen Bezahlservice zur Verfügung stellt; diese muss darum grosse Mengen Bargeld auf sich tragen und droht ausgeraubt zu werden.
Man landet schnell bei solchen Details, will man die Auswirkungen des nordischen Modells auf die Sexarbeiter:innen beschreiben. In ihrem Buch «Revolting Prostitutes. The Fight for Sex Workers’ Rights» (2018) benennen Juno Mac und Molly Smith den Kern des Problems, nämlich die «Asymmetrie der Notwendigkeit» zwischen Sexarbeiterin und Kunde: «Die Sexarbeiterin ist immer stärker darauf angewiesen, Sex zu verkaufen, als der Kunde, ihn zu kaufen.» Die beiden Britinnen, die selber als Sexarbeiterinnen gearbeitet haben, erinnern daran, dass diese Arbeit meistens aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus gemacht wird – weil eine Person schlicht über wenige Optionen verfügt, um sich selber oder Angehörige über Wasser zu halten. Demnach bedeutet die Reduktion der Nachfrage für sie keine Befreiung, sondern vor allem: Verarmung, grössere gesundheitliche Risiken und Gewalt.
Dass genau das unter dem Einfluss des französischen Gesetzes geschieht, zeigt die von der NGO Médecins du Monde in Auftrag gegebene Studie «What Do Sex Workers Think about the French Prostitution Act?». Die Befragung von Dutzenden Sexarbeiter:innen ist bis heute die einzige umfassende Untersuchung zu den Arbeitsbedingungen unter dem neuen Gesetz. Obwohl nur zwei Jahre nach dessen Inkrafttreten gemacht, kommt sie zu einem klaren Schluss: «Das Gesetz hat einen verheerenden Effekt auf die Sicherheit, die Gesundheit und die allgemeinen Lebensbedingungen von Sexarbeiter:innen.»
63 Prozent der Befragten sagten, ihre allgemeine Lebensqualität habe sich seit dem Inkrafttreten des Gesetzes im April 2016 verschlechtert, 78 Prozent, ihre Einnahmen seien gesunken. Entgegen dem erklärten Ziel des nordischen Modells hat die Zahl der Sexarbeiter:innen nicht abgenommen. Ganz im Gegensatz dazu die der Kunden, droht diesen doch nun eine Busse von 1500 bis 3750 Euro. Weil den Sexarbeiter:innen weniger Kunden zur Auswahl stehen, gehen sie grössere Risiken ein, um trotzdem über die Runden zu kommen. Die Studie stellt eine Zunahme der Gewalt gegen Sexarbeiter:innen und eine generelle Machtverschiebung hin zu den Kunden fest. Diese fühlen sich nun eher berechtigt, Sex ohne Kondom oder tiefere Preise durchzusetzen, weil sie das Risiko einer Busse tragen.
Prekarisierte trifft es am härtesten
Letztlich trifft das Gesetz die Gruppe am stärksten, die am meisten auf das Einkommen aus der Sexarbeit angewiesen ist: Migrant:innen ohne Papiere, die auf der Strasse arbeiten, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Das Gesetz trifft sie an einem empfindlichen Punkt: Die Kontaktaufnahme auf der Strasse ist für den Kunden der gefährlichste Moment, erwischt zu werden – aber auch der Zeitpunkt, an dem die Sexarbeiter:in abwägen muss, ob sie den Kunden annehmen will und zu welchen Bedingungen. Genau für diese Gruppe greift auch das knapp finanzierte Ausstiegsprogramm nicht, das mit dem Gesetz eingeführt wurde – denn die Voraussetzung für eine Aufnahme ist das sofortige Aussetzen der Sexarbeit, was viele sich nicht leisten können.
Wenig überraschend, sind die für die Studie befragten Sexarbeiter:innen, denen das Gesetz angeblich nützen soll, fast übereinstimmend gegen die Kriminalisierung der Kund:innen.
Cybèle Lespérance sagt: «Die Argumente für das nordische Modell sind in sich völlig geschlossen. Die Befürworter:innen glauben, dass Prostitution in jedem Fall Gewalt ist, dann spielt es auch keine Rolle, unter welchen Bedingungen sie geschieht.» Wer dennoch für bessere Bedingungen kämpfe, «der muss nach dieser Logik entweder dazu gezwungen oder dafür bezahlt werden». Auch ihr selbst werde das regelmässig vorgeworfen. «Es ist letztlich die Idee eines Komplotts, bei dem alle mit einer ausbeuterischen Industrie unter einer Decke stecken.»