Durch den Monat mit Lucia Kotikova (Teil 1): Was fasziniert Sie an Hannah Arendt?
Schauspielerin Lucia Kotikova möchte nicht von falscher Seite Applaus bekommen. Sie wünscht sich mehr multiperspektivisches Denken und äussert sich zum umstrittenen Auftritt von Anna Netrebko in Zürich.
WOZ: Lucia Kotikova, Sie stehen derzeit als Hannah Arendt in Bern auf der Bühne. Im Stück «Eichmann – Wo die Nacht beginnt» führt die jüdische Denkerin einen fiktiven Dialog mit dem verurteilten Nationalsozialisten Adolf Eichmann, der auch als «Architekt» des Holocaust bezeichnet wird. Wie haben Sie sich der Jahrhundertfigur Arendt angenähert?
Lucia Kotikova: Als Hannah Arendt 1961 am Eichmann-Prozess in Jerusalem teilnahm, war sie über fünfzig Jahre alt, also viel älter als ich. Es war von Anfang an klar, dass es nicht darum gehen kann, sie möglichst genau zu imitieren, wie sie sitzt oder wie sie raucht … Wenn ich das getan hätte, wäre ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, sie zu spielen, statt ihrem Denken zu folgen, um das es im Stück geht. Ich habe Interviews von ihr immer wieder angehört und gelauscht, wie sie ihre Gedanken formuliert. Ich habe versucht, ihren Satzbau zu übernehmen, diese grossen Bögen, die sie beim Formulieren ihrer Gedanken macht … Sich mit ihr und ihrem Denken zu beschäftigen, macht grossen Spass.
WOZ: Was fasziniert Sie an Hannah Arendts Denken besonders?
Lucia Kotikova: Ihr Denken war multiperspektivisch. Das Radikale an ihr war, dass sie nicht von einem Thema besessen war, sie versuchte, radikal auf alles zu schauen. Sie wurde dafür auch angefeindet und hat Freunde verloren. Das passiert noch heute: Menschen, die multiperspektivisch denken, werden angefeindet, dabei sollte man sich an ihnen ein Vorbild nehmen.
WOZ: Sie kommen wie Arendt aus einer jüdischen Familie. War das für die Besetzung der Rolle ein Thema?
Lucia Kotikova: Es war klar, dass ich bei diesem Projekt dabei bin, weil ich eine andere Perspektive auf diese Geschichte habe und mich anders einbringe als nichtjüdische Personen. Es kam etwa die Idee auf, dass Arendt und Eichmann nach der Hälfte des Stücks die Rollen tauschen könnten. Ich habe gesagt, ich mach das auf keinen Fall. Ich habe zugestimmt, Arendt zu spielen, aber nicht Eichmann. Was hätte dieser Rollentausch denn auch aussagen sollen? Tatsächlich wäre ich bei dem Projekt froh gewesen, wenn noch mehr jüdische Personen dabei gewesen wären. Allgemein ist es so, dass es in den Ensembles meistens nur eine jüdische Person gibt, wenn überhaupt, und eine nichtweisse Person. Das Jüdischsein sieht man uns ja nicht an – es gibt viele, die sich nicht outen, weil sie Angst haben, sich dadurch Gefahr auszusetzen.
WOZ: Haben Sie auch Angst?
Lucia Kotikova: Zurzeit habe ich viel Angst. Auch habe ich oft Angst, dass das Thema Nahost aufkommt und man will, dass ich mich positioniere. Und ich habe schon meine Gedanken, aber die behalte ich, je nachdem, mit wem ich spreche, für mich. Auch weil ich fürchte, dass meine Worte instrumentalisiert werden könnten: Egal was ich sage, irgendwer findet einen Nutzen und sagt, er kenne eine jüdische Person, die das und das gesagt habe. Man weiss einfach nie, von welcher Seite man beklatscht wird, das ist das Perfide. Ich wünsche mir, dass alle Menschen in Frieden leben können, ich hoffe, das ist klar.
WOZ: Die Frage ist auch, wer gehört wird – und wer eher nicht.
Lucia Kotikova: Allgemein scheint mir, dass jüdische Stimmen schon gehört werden, im Gegensatz zu palästinensischen Stimmen. Und damit meine ich palästinensische Stimmen, nicht Menschen, die für Palästina reden, selbst aber nicht vom Krieg betroffen sind. Gäbe jeder von ihnen seine Stimme ab an jemanden, der betroffen ist, dann sähe es wieder anders aus.
Aber ich selber bin ja auch befangen, obwohl ich versuche, multiperspektivisch zu denken. Bei der Ukraine und Russland ist die Situation irgendwie einfacher … Wobei, die Frage mit Anna Netrebko ist ja auch nicht so einfach.
WOZ: Die russische Sängerin tritt zurzeit am Opernhaus Zürich auf, was für Aufruhr sorgt: Kritiker:innen werfen ihr enge Verbindungen zur russischen Regierung vor. Wie sehen Sie das?
Lucia Kotikova: Ich glaube dem Opernhaus-Intendanten, wenn er sagt: Netrebko lebt nicht in Russland, sie ist nicht mehr dort aufgetreten, sie hat sich schon früh auf Facebook öffentlich gegen den Krieg geäussert, sie hat den Krieg einen Krieg genannt, und sie hat sich entschieden, auf einer klar proukrainisch positionierten Bühne aufzutreten. Da stellt sich mir schon die Frage: Was soll sie denn noch mehr machen?
Und ich als Tochter ukrainischer Eltern könnte ja kritischer sein. Aber ich habe viele russische Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin. Und ich sehe, wie sie unter Generalverdacht stehen. Klar, ich möchte mit Leuten, die mit radikal russisch-nationalistischer Sicht durchs Leben laufen, nichts zu tun haben – ich möchte generell mit Nationalisten nichts zu tun haben.
WOZ: Würden Sie mit Anna Netrebko zusammen auftreten?
Lucia Kotikova: Dann würde ich mir das Ganze sicher noch mal genauer anschauen. Obwohl es doch grossartig wäre, wenn eine ukrainische und eine russische Person zusammen auf der Bühne stehen würden. Oder auch eine palästinensische und eine jüdische Künstler:in. Das wäre doch genau das, was wir hier brauchen. Multiperspektivisches Auftreten, aber natürlich ohne faschistisches Gedankengut.
Lucia Kotikova (27) ist in Dortmund aufgewachsen und Mitglied des Schauspielensembles der Bühnen Bern. 2024 wurde sie als Nachwuchsschauspielerin des Jahres ausgezeichnet.