Durch den Monat mit Gracie Mae Bradley (Teil 2): Verlieren Sie manchmal die Hoffnung?
Die Menschenrechtsaktivistin Gracie Mae Bradley erklärt, warum der Ruf der Londoner Polizei völlig im Keller ist.

WOZ: Frau Bradley, haben Sie sich eigentlich die Krönung von König Charles am Samstag angeschaut?
Gracie Mae Bradley: Nein, wo denken Sie hin! Das Leben ist kurz, und ich habe wirklich Besseres zu tun.
Dann gleich zur Sache. Letzte Woche haben wir über die restriktive Einwanderungspolitik gesprochen, aber Grossbritannien geht auch in anderer Hinsicht sehr autoritäre Wege. Sie waren bis 2022 Direktorin der Bürgerrechtskampagne Liberty und haben diese Entwicklung aus nächster Nähe beobachtet. Was passiert hier gerade?
Die Regierung ist sehr stark auf eine rechtspopulistische Richtung eingeschwenkt. Sie will das Streikrecht beschränken, die Polizeibefugnisse ausbauen, und sie plant, das Gleichstellungsgesetz abzuschwächen, um die Rechte von trans Menschen zu beschneiden. Zudem brauchen die Brit:innen jetzt Identitätskarten, um wählen zu können – damit diskriminiert die Regierung ärmere Brit:innen und ethnische Minderheiten.
Wir haben in den letzten Jahren miterlebt, wie viele der Mechanismen, mit denen die Regierung zur Rechenschaft gezogen werden soll, ausgehöhlt oder abgeschafft worden sind. In praktisch allen Bereichen sind unsere Rechte eingeschränkt worden – das ist sehr bedenklich. In meinen Augen lässt sich diese Entwicklung nicht von der Pandemie trennen, insbesondere in Bezug auf die Polizei.
Inwiefern?
Um zunächst klarzustellen: Ich bin keine Covid-Verschwörungstheoretikerin. Die Pandemie war eine ernste Gesundheitskrise. Die Menschen vor dem Virus zu schützen, war die Priorität. Aber ein grosses Problem bestand darin, dass sich die britische Regierung zu stark auf die Polizei verliess, um die Regeln durchzusetzen. Sie hat der Polizei zu viel Macht gegeben – und diese hat diese Macht dann missbraucht. Wir haben von Fällen gehört, wo Beamte Einkaufswagen kontrollierten, um sicherzugehen, dass die Person nur lebensnotwendige Artikel kaufte.
Wenig überraschend waren bestimmte Gruppen davon stärker betroffen. Es ist längst bekannt, dass ethnische Minderheiten von der Polizei häufiger kontrolliert und härter angegangen werden als weisse Leute. Und das war auch während der Pandemie so.
Kürzlich wurde das auch amtlich bestätigt: Der Untersuchungsbericht von Louise Casey übte im März vernichtende Kritik an der Londoner Polizei und stellte systematischen Rassismus und Frauenfeindlichkeit fest.
Genau. Zu Beginn der Pandemie waren viele Leute skeptisch, ob es eine gute Idee sei, der Polizei noch mehr Befugnisse zu geben angesichts der Tatsache, dass sie Minderheiten diskriminiert. Doch das wagte man damals noch nicht offen zu sagen. Aber jetzt, mit dem Casey-Bericht und mehreren Fällen, wo Polizeibeamte als Mörder und Vergewaltiger enttarnt wurden, ist das Problem einer breiteren Öffentlichkeit bewusst geworden.
Der Ruf der Polizei ist derzeit völlig im Keller. Und dennoch hat die Regierung deren Befugnisse weiter ausgebaut – die Polizei kann jetzt etwa Proteste viel leichter einschränken. Das ist ein rein ideologischer Entscheid. Denn nüchtern betrachtet würde niemand sagen: Wir sollten einer ineffektiven Organisation, die nicht vertrauenswürdig ist, mehr Macht geben. Aber genau das passiert.
Haben Sie als Direktorin von Liberty vor der autoritären Stossrichtung der britischen Regierung gewarnt?
Oh ja. Aber mir wurde deshalb oft Panikmache vorgeworfen. Ein Fernsehmoderator sagte mir, meine Rhetorik sei reisserisch. Dabei ist es doch wie bei diesem Szenario mit dem Frosch im Kochtopf: Wenn man das Wasser langsam erhitzt, bleibt der Frosch trotz steigender Temperatur im Wasser und wird am Ende gekocht. So ist es auch hier. An welchem Punkt sagen wir: «Es ist zu heiss, was hier passiert, ist schlimm»? Für viele Leute in marginalisierten Gruppen ist die Situation seit sehr langer Zeit schlimm – besonders für ärmere Leute aus ethnischen Minderheiten. Leute, die nicht sehen, dass wir uns auf einem gefährlichen Pfad befinden, verschliessen schlichtweg die Augen. Man muss schon sehr privilegiert und von der Bevölkerung abgekoppelt sein, um zu sagen: Hier ist doch alles in Ordnung.
Da kann man schnell die Hoffnung verlieren. Passiert Ihnen das?
Ich halte mich an das Motto der US-amerikanischen Abolitionistin Mariame Kaba. Sie sagt: Hoffnung ist eine Disziplin. Ich mache mir zwar viele Sorgen; aber ich versuche, mich nicht zu sehr von dem beeinflussen zu lassen, was in der Politik in Westminster geschieht. Für mich zählt, was man macht – ich habe in meiner Jugend wohl zu viel Jean-Paul Sartre gelesen. Daraus schöpfe ich Hoffnung: Ich sehe die unzähligen kleinen Akte der Solidarität, ich sehe die Leute, die benachteiligten Menschen und Geflüchteten helfen, Gassenküchen aufbauen oder auf Demos gehen. Das ist es, was den Wandel antreibt, so können wir Veränderungen bewirken. Wenn es das nicht mehr gäbe, dann würde ich tatsächlich die Hoffnung verlieren. Aber solange es Leute gibt, die Widerstand leisten, bin ich guten Mutes.
Gracie Mae Bradley (32) ist Direktorin der NGO Friends of the Earth Scotland und wohnt seit letztem Jahr in Glasgow. Sie schätzt die dortige Freundlichkeit – im Gegensatz zu London –, insbesondere die der älteren Frauen, die mit ihr an der Bushaltestelle plaudern.