Israel / Palästina: «Ein absolut sinnloser Plan»

Nr. 33 –

Zwanzig Jahre nach dem Abzug aus Gaza steht Israel kurz vor einer vollständigen Wiederbesetzung. Befürworter:innen und Gegner:innen von damals streiten, ob man den Küstenstreifen je hätte verlassen dürfen. Dort werden derweil Fakten geschaffen.

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Mitarbeiter der Palästinensischen Autonomiebehörde reissen nach dem Abzug der Bewohner:innen eine israelische Siedlung im Gazastreifen ab
August 2005: Mitarbeiter der Palästinensischen Autonomiebehörde reissen nach dem Abzug der Bewohner:innen eine israelische Siedlung im Gazastreifen ab. Foto: Ahmed Jadallah, Reuters

2005, nach fünf Jahren der zweiten Intifada, beschloss Israel unter Premierminister Ariel Scharon, 21 völkerrechtswidrige Siedlungen im Gazastreifen zu räumen und seine Truppen abzuziehen.

Amit Segal wird nicht müde, den Befürworter:innen jenes Abzugs ihre eigenen Worte von vor zwanzig Jahren vorzuhalten. So zitiert der rechte Journalist den 2014 verstorbenen Scharon: Die Räumung der Siedlungen in Gaza diene «Israel unter allen Umständen» und minimiere «Opfer auf beiden Seiten». Oder Scharons Verteidigungsminister Schaul Mofas, der von einem «Rückgang der Terrorangriffe» ausging. Oder Scharons Nachfolger Ehud Olmert, der den Gegnern des Abzugs vorgeworfen habe, sie sähen nur ewigen Terror, doch die Regierung garantiere eine Möglichkeit für Veränderung.

«Eines bleibt elementar», schreibt Segal in der meistgelesenen Zeitung des Landes, «Israel Hayom»: Eine Gruppe Israelis habe in Gaza nach dem Abzug «Raketen, Tunnel und Überfälle» kommen sehen. Die andere habe sich «Ruhe, Entwicklung und internationale Investitionen in Gaza» vorgestellt. Für ihn ist der Fall klar: «Die erste Gruppe hatte absolut recht, die zweite lag absolut daneben.» Nach dem Gaza-Abzug 2005 sei der Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 nur eine Frage der Zeit gewesen.

Segals Position ist heute unter Israelis populär. Während die Armee den Gazastreifen bereits zu rund drei Vierteln kontrolliert, halten derzeit mehr als die Hälfte der jüdischen Israelis eine erneute Besiedlung für eine gute Idee. Bald sollen laut Benjamin Netanjahu auch die restlichen Gebiete erobert werden. Wo die auf engstem Raum ausharrenden rund zwei Millionen Palästinenser:innen dann hinsollen, bleibt unklar.

Die Luftangriffe auf Gaza-Stadt nehmen bereits zu. Allein am Dienstag sollen nach Angaben des palästinensischen Zivilschutzes rund neunzig Menschen bei Bombardierungen getötet worden sein. Netanjahu befeuerte in einem Interview erneut Spekulationen über eine geplante Vertreibung in andere Länder. «Öffnet eure Türen», forderte er andere Staaten auf. Derzeit laufen offenbar Gespräche mit dem Südsudan, der die Palästinenser:innen aus Gaza aufnehmen solle, berichtet die Nachrichtenagentur AP.

Früherer Regierungsberater warnt

Die Wiederbesetzung Gazas sei «ein absolut sinnloser Plan», hält Dov Weissglas fest. Der frühere Anwalt und Berater von Premier Scharon gilt als einer der Architekten des Abkopplungsplans von 2005. Worauf die heutige Regierung zusteuere, sei ein Schritt zurück vor die Zeit der Osloer Verträge, zurück zur Militärverwaltung der palästinensischen Bevölkerung, sagt der 78-Jährige.

Im Grunde aber habe Israel Gaza de facto bereits eingenommen, fügt Weissglas hinzu. 86 Prozent stehen laut der Uno entweder unter Evakuierungsanordnungen oder gelten als militärische Sperrzone. Die humanitäre Lage wird immer schlimmer. Das Uno-Welternährungsprogramm spricht vom «Worst-Case-Szenario einer Hungersnot».

Weissglas sagt, man habe das Gegenteil im Sinn gehabt, als am 15. August 2005 rund 8000 jüdische Siedler:innen den Gazastreifen verlassen mussten. «Erstmals in ihrer Geschichte erhielten die Palästinenser:innen die Kontrolle über den gesamten Gazastreifen», sagt er und zählt auf, was ihm damals möglich schien: «Zusammen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde gab es grosse Pläne: einen Tiefwasserhafen, die Eröffnung eines Flughafens bis hin zu einem Tunnel zwischen Gaza und dem Westjordanland.» Die Palästinenser:innen hätten funktionierende Institutionen aufbauen und den militanten Widerstand in den eigenen Reihen eindämmen können.

Mit seiner Sicht war Weissglas damals in Israel nicht allein. Ein Kolumnist der linksliberalen «Haaretz», Nehemia Schtrasler, träumte damals bereits von palästinensischen Hummus- und Fischrestaurants in Gaza, die von israelischen Tourist:innen profitieren würden. Scharons «Abkopplungsplan» stiess nach anfänglich heftigem Widerstand bei vielen Israelis schliesslich auf Unterstützung. Nach Jahren blutiger Selbstmordanschläge und israelischer Vergeltungsaktionen während der zweiten Intifada war der Wunsch nach Veränderung gross.

In der Erzählung von Weissglas klingt das so: Dem Hardliner und Siedlungsbefürworter Ariel Scharon sei klar gewesen, dass Israelis und Palästinenser:innen je einen eigenen Staat bräuchten. Scharon habe erwartet, dass Gaza – anders als das Westjordanland – letztlich als Resultat von Friedensverhandlungen an die Palästinenser:innen gehen werde. «Damit war jeder Israeli, der für ein Gebiet stirbt, das nie zu Israel gehören wird, einer zu viel», sagt Weissglas. «Wenn es gut gelaufen wäre, hätten wir im Anschluss über die ungelösten Fragen wie etwa den künftigen Status von Jerusalem verhandeln können», so Weissglas. Am Ende hätte ein palästinensischer Staat stehen können.

Kontrolle nie aufgegeben

Nur hatte Scharon die Entscheidung einseitig ohne die Palästinenser:innen gefällt. Von der Weltöffentlichkeit wurde der Schritt weithin als grosses Zugeständnis wahrgenommen. Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass Israel den Palästinenser:innen mitnichten ein souveränes Gaza überliess. Unter anderem die Kontrolle über den Luftraum und die Seegrenzen, den Personen- und den Warenverkehr oder die Telekommunikationsnetze blieben ganz oder teilweise in der Hand von Israel. Manche Rechtsexpert:innen gehen deshalb davon aus, dass damit der völkerrechtliche Besetzungsstatus trotz Abzug aufrechterhalten wurde. Auch bewaffnete Razzien der Armee gab es weiterhin.

«Wir sind so weit gegangen, wie die Umstände es erlaubten», behauptet Weissglas. Nach den Anschlägen im Zuge der Intifada habe man nicht von heute auf morgen die Grenzen öffnen können. «Auf Angriffe mussten wir reagieren, aber wir haben so moderat wie möglich reagiert, um die Palästinensische Autonomiebehörde nicht mehr als notwendig in ein Dilemma zu bringen.»

Was die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) allerdings in ein Dilemma brachte, war die Tatsache, dass Scharon weitere Ziele verfolgte. Zum einen unterstrich der Schritt das Scheitern des Oslo-Prozesses, mit dem auch viele Palästinenser:innen Hoffnungen verbunden hatten. Mit ihnen musste nach Scharons Alleingang nicht mehr verhandelt werden. Zum anderen gab Israel zwar auch im nördlichen Westjordanland vier Siedlungen auf, baute dafür aber andere deutlich aus und untermauerte seine Ansprüche auf das Gebiet. Die Palästinenser:innen in Gaza und im Westjordanland spaltete der Schritt letztlich in zwei Lager.

2006 gewann die Hamas die Wahlen zum palästinensischen Legislativrat gegen die traditionell führende säkulare Fatah. 2007 übernahm sie in einem blutigen Kampf die Macht in Gaza. Die Fatah unter Mahmud Abbas regierte weiter unter israelischer Besatzung im Westjordanland. Die Angriffe aus Gaza auf Israel nahmen zu, das seinerseits mit einer strikten Blockade reagierte.

Vertreibung als Ziel

Kritiker wie Segal, die den 7. Oktober als eine Folge des Abzugs sehen, unterschlagen laut Weissglas aber, dass seit 2009 mit Benjamin Netanjahu fast ununterbrochen einer der ihren an der Spitze der Regierung stand: «Es war Netanjahu, der seit seinem Amtsantritt die Zusammenarbeit mit der PA einstellte.» Dass jahrelang riesige Geldbeträge aus Katar nach Gaza flossen, war in Israel ein offenes Geheimnis und schien Netanjahus Regierung nicht zu stören.

Dov Weissglas glaubt, die PA habe auch heute noch eine Chance, die Hamas aus Gaza zu verdrängen. «Natürlich ist sie in ihrem jetzigen Zustand eine leere Hülle», sagt er. Ihr als rechtmässiger palästinensischer Vertretung dennoch formal die Autorität über Gaza zu übertragen, würde aber die Tür für einen Nachkriegsplan öffnen. Dann könnten arabische Länder bewaffnete Kräfte im Auftrag der PA schicken. «Die Hamas hat weder die Mittel noch ein Interesse, Nachkriegsgaza wiederaufzubauen. Ich bin mir sicher, sie würde, konfrontiert mit so einem Vorschlag, den Gazastreifen verlassen. Der Krieg hätte so vor Monaten enden können.»

Netanjahu indes scheint sich zwanzig Jahre nach dem Abzug aus Gaza zunehmend auf ein neues Ziel zu verlegen: die Besetzung des Gazastreifens – ohne dessen Bevölkerung.