Gaza: Abgekoppelt
Eine Besetzung Gazas wäre für die Palästinenser:innen und für Israel fatal. Doch Benjamin Netanjahu ignoriert steigenden Druck von aussen.
Nach der gezielten Tötung des Al-Dschasira-Korrespondenten Anas al-Scharif in Gaza-Stadt wunderte sich Israels Armeesprecher Nadav Schoschani am Dienstag, weshalb zahlreiche Medien die vorgelegten «Beweise» für eine Hamas-Mitgliedschaft des Getöteten «ignoriert» hätten. Das Gegenteil war der Fall: Die Belege waren weithin aufgegriffen worden, nur für stichhaltig befanden sie viele Medien nicht, ebenso wenig wie die Vereinten Nationen und das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ).
Das mag nicht zuletzt mit einer Realitätsverschiebung seit Kriegsbeginn zu tun haben, sichtbar auch in der Art, mit der das israelische Militär die Ermordung des zuletzt bekanntesten Gesichts von al-Dschasira in Gaza als Erfolg verkauft, ohne darauf einzugehen, warum neben Scharif fünf weitere Journalisten getötet wurden.
Diese Selbstverständlichkeit wirft Fragen auf: Genügt der israelischen Armee mittlerweile eine Sympathie für die Hamas, wie sie alte Fotos und Nachrichten von Scharif nahelegen könnten, um einen Journalisten des wichtigsten arabischen Nachrichtensenders mit einem Luftangriff zu töten? Wie soll Scharif, der beinahe täglich live auf Sendung zu sehen war, wie behauptet nebenbei eine Raketeneinheit kommandiert haben? Welche Beweise lagen gegen seine Kollegen vor? Oder wurde ihr Tod einfach in Kauf genommen? Und warum wurde Scharif, der letzte Al-Dschasira-Korrespondent im Norden Gazas, ausgerechnet jetzt getötet, wo Israel sich anschickt, Gaza-Stadt zu erobern?
Der Fall Scharif ist symptomatisch für eine immer grösser werdende Kluft zwischen der offiziellen israelischen Kommunikation und der Realität vor Ort. Israels Regierung fällt es zunehmend schwerer, die Erzählung vom sich selbst verteidigenden Angegriffenen aufrechtzuerhalten. Doch obwohl sich international der politische Druck verschärft, lenkt Benjamin Netanjahu kaum ein.
Bilder von abgemagerten Kleinkindern und nach Essen suchenden Menschen verlieren ihren Schrecken nicht, nur weil die Betroffenen zusätzlich noch an Vorerkrankungen leiden oder ein Fotograf sie aus einem besonders ausdrucksstarken Winkel fotografiert, wie jüngst Israels Präsident Jitzhak Herzog nahelegte. Sie werfen aber sehr wohl die Frage auf, weshalb die israelische Armee, die alle Grenzübergänge nach Gaza kontrolliert, nicht endlich ausreichend Hilfsgüter hineinlässt. Und warum Minister diese Politik seit Monaten ungestraft als legitime Kriegstaktik gutheissen können.
Dasselbe gilt für die geplante Eroberung von ganz Gaza, die laut dem eigenen Sicherheitsapparat weniger auf militärischer Notwendigkeit als auf politischem Kalkül und ideologischem Starrsinn basiert. Militärisch sind die Erfolgsaussichten mau. Das zeigt sich auch an der Bilanz von bald zwei Jahren Krieg. Nur eine Handvoll Geiseln konnte lebend durch Armeeeinsätze befreit werden, die Mehrheit kam durch Verhandlungen frei. Die Hamas, obgleich geschwächt, ist nicht besiegt.
Die Liste der Gefahren ist hingegen lang. Zuallererst wird die Eskalation das Leid der zwei Millionen Menschen in Gaza noch verschärfen. Sie wird die ohnehin an einem Kipppunkt angelangten internationalen Beziehungen Israels zu seinen Verbündeten zusätzlich belasten. Sie gefährdet das Leben der schätzungsweise zwanzig noch lebenden Geiseln und spaltet die israelische Gesellschaft, in der viele den Sinn des Krieges nicht mehr sehen. Hinzu kommt: Einmal begonnen, lässt sich eine Besetzung nicht ohne Weiteres wieder beenden.
Netanjahu scheint diese Sackgasse umgehen zu wollen: Er spekuliert darauf, dass ein anderes Land die Bevölkerung des Gazastreifens aufnehmen wird. Derzeit sollen laut Berichten Gespräche mit dem Südsudan laufen. Doch die meisten Palästinenser:innen werden nicht freiwillig gehen wollen, schon gar nicht dauerhaft. Ein solcher Schritt, der kaum anders denn als «ethnische Säuberung» zu bezeichnen ist, lässt sich durch nichts mehr rechtfertigen.