Schweiz und Israel: Eine Konvention, die verpflichtet

Nr. 33 –

Die Schweiz müsste aufgrund der Genozidkonvention aktiv werden, um einen Völkermord zu verhindern. Zwei offene Briefe von bekannten Jurist:innen fordern vom Bundesrat, dem mit Blick auf Gaza nachzukommen.

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Gaza-Solidaritätskundgebung am 21. Juni vor dem Bundeshaus in Bern
Bundesrat, mach was! Solidaritätskundgebung am 21. Juni vor dem Bundeshaus in Bern. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

«Der Bundesrat macht nichts, um einen Genozid im Gazastreifen zu verhüten. Damit macht er sich schuldig.» Das sagt der Zürcher Rechtsanwalt Marcel Bosonnet. Gemeinsam mit seinen Berufskollegen Florian Wick und Philip Stolkin hat er einen offenen Brief verfasst, in dem sie den Bundesrat auffordern, endlich aktiv zu werden. Auch eine Gruppe von mehr als dreissig Völkerrechtsprofessor:innen hat diese Woche einen offenen Brief verfasst, in dem sie den Bundesrat in die Pflicht nehmen.

Die Frage, ob Israel im Gazastreifen einen Genozid verübt, wird schon länger diskutiert. Bereits am 29. Dezember 2023 hatte Südafrika am Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag Klage gegen Israel eingereicht: Israelische Militärs würden palästinensische Zivilist:innen töten, ihnen schwere körperliche und seelische Schäden zufügen und Lebensbedingungen schaffen, die darauf ausgelegt seien, «ihre physische Zerstörung herbeizuführen». Es gebe ein «systematisches Muster», das auf Absicht schliessen lasse, argumentierte Südafrikas Rechtsvertreterin Adila Hassim bei der ersten Gerichtsanhörung. Wann der IGH ein Urteil fällen wird, ist noch offen.

Zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord gibt es die internationale Genozidkonvention, die die meisten Staaten, darunter auch die Schweiz, unterschrieben haben. Von einem Genozid wird gesprochen, wenn die bewusste Absicht bewiesen ist.

Situation immer schlimmer

Gemäss Artikel 1 der Konvention sind die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, einen Genozid zu verhüten. Genau da setzen die Verfasser:innen der beiden offenen Briefe an. «Der Bundesrat muss gemäss der Konvention zwingend handeln», sagt Bosonnet. Er bezieht sich dabei auf mehrere Anordnungen des IGH. Dieser hat am 30. April 2024 bezüglich der besetzten Gebiete festgestellt, dass die Vertragsstaaten des Abkommens alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen müssen, um einen Völkermord zu verhindern. Am 24. Mai 2024 hielt er fest, dass Israel Handlungen verübe, die einem Genozid gleichkommen könnten. Und in einem Gutachten vom 21. Juli 2024 hat der IGH die Pflicht aller Staaten betont, zur Beendigung dieser Situation beizutragen.

Trotz der Anordnungen hat sich die Situation für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen weiter verschärft. So nimmt die Hungersnot immer noch zu. Laut Angaben von Uno-Hilfsorganisationen haben mehr als ein Drittel der Bewohner:innen jeweils über Tage nichts zu essen. Auch wenn Israel wieder mehr Hilfslieferungen zulässt, kommt bei der Bevölkerung kaum etwas an (siehe WOZ Nr. 32/25). Zudem hat die israelische Regierung angekündigt, nun auch Gaza-Stadt militärisch einnehmen zu wollen. Rund einer Million Menschen droht die erneute Vertreibung.

Angesicht der Kriegsrealität in Gaza sprechen immer mehr Menschenrechts- und Hilfsorganisationen von einem Genozid, jüngst auch B’Tselem aus Israel. Der Genozidforscher Omer Bartov betont, nicht jede Gräueltat sei ein Völkermord, man müsse den Begriff vorsichtig gebrauchen. Doch auch er ist überzeugt, dass Israel im Gazastreifen einen Genozid begeht. Er sagte Anfang März der WOZ, man könne im Vorgehen der Armee ein Muster erkennen, das «die systematische Zerstörung des Gazastreifens» zeige, «um es unmöglich zu machen, dort zu leben und eine kulturelle Identität als Gruppe zu bewahren» (siehe WOZ Nr. 10/25).

Abkommen aussetzen

In ihrem Brief vom 9. August fordern Bosonnet und seine Mitstreiter den Bundesrat auf, alle bestehenden Abkommen mit Israel im Bereich der Wirtschafts- und Finanzdienstleistungen auszusetzen und Partnerschaften mit israelischen Institutionen oder Unternehmen im technologischen, akademischen, militärischen oder sicherheitsbezogenen Bereich zu verbieten. Zudem sei der Export von Waffen und Dual-Use-Gütern zu unterbinden und der Import von Waren aus israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten zu verbieten.

Zu den Unterzeichnenden des Briefs gehört die Organisation Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina. Unterschrieben haben auch viele Kulturschaffende, so etwa die Schriftsteller:innen Martin R. Dean, Melinda Nadj Abonji, Ursula Priess, Daniel de Roulet oder Peter Stamm.

Auch die Völkerrechtler:innen, darunter Samantha Besson (Uni Fribourg), Anna Petrig (Uni Basel), Marco Sassòli (Uni Genf) und Helen Keller (Uni Zürich), fordern Verbote bezüglich Waffenverkäufen und Importen aus den besetzten Gebieten. Zudem verlangen sie vom Bundesrat etwa, sich für die Schaffung eines palästinensischen Staats einzusetzen.

Die Schweiz sei verpflichtet, Sanktionen gegen Personen zu ergreifen, die schwere Verbrechen gegen das Völkerrecht begehen. Auch müsse die Schweiz aktiv das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) unterstützen und insbesondere dessen Finanzierung fortsetzen, «um eine weitere Schwächung dieser Organisation und damit eine Gefährdung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge zu vermeiden». Sie seien besorgt über die Passivität der Schweiz und «entsetzt über die schweren Verstösse gegen das Völkerrecht durch die israelische Armee».

Rechtsanwalt Bosonnet will abwarten, wie der Bundesrat auf den Brief reagiert. Falls nichts passiere, so prüfe er rechtliche Schritte, sagt er. Die Völkerrechtler:innen schreiben, die Schweiz riskiere möglicherweise Gerichtsverfahren, wenn sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkomme.