Wahl in Bolivien: Eine Partei zerlegt sich selbst
Wie die Bewegung zum Sozialismus am Ego des langjährigen Präsidenten Evo Morales scheiterte.
Die einst charismatischen linken Präsidenten Lateinamerikas der vergangenen Jahrzehnte haben eine gemeinsame Schwäche: Sie scheinen zu glauben, dass ihre Länder ohne sie an der Spitze verloren wären. Hugo Chávez, von 1999 bis zu seinem Tod 2013 Präsident von Venezuela, schaffte es erst auf dem Sterbebett, mit Nicolás Maduro einen Nachfolger zu bestimmen. Luiz Inácio Lula da Silva, von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens, wählte Dilma Rousseff als Nachfolgerin. Er wusste, dass sie ihn nie in den Schatten stellen würde. 2023 kehrte er zurück ins Präsidentenamt, und vieles deutet darauf hin, dass er es bei der Wahl Ende kommenden Jahres – dann 81-jährig – noch einmal versuchen will.
Keine Marionette
Für unverzichtbar hält sich auch Evo Morales in Bolivien. Er hat seine lange als unschlagbar geltende Bewegung zum Sozialismus (MAS) so zerlegt, dass ihr Kandidat Eduardo del Castillo bei der Wahl am vergangenen Sonntag nur knapp über drei Prozent der Stimmen bekam. Zwanzig Jahre linke Regierung werden mit der Stichwahl vom 19. Oktober ein Ende haben. Da werden der gemässigt konservative Rodrigo Paz (knapp 33 Prozent im ersten Wahlgang) und der stramm rechte Jorge Quiroga (gut 26 Prozent) gegeneinander antreten.
Die Verdienste des Evo Morales sind unbestritten. Der erste indigene Präsident Boliviens (2005 bis 2019) hat die Erdgasindustrie des Landes verstaatlicht, hat die weltweit grössten Lithiumvorkommen nicht verscherbelt, hat in der Zeit hoher Rohstoffpreise in Infrastruktur, Schulen und Krankenhäuser investiert. Er hat eine Mindestrente eingeführt, hat Grundnahrungsmittel und Benzin subventioniert, und vor allem hat er das Selbstbewusstsein der indigenen Bevölkerungsmehrheit gestärkt.
Aber er konnte nicht von der Macht lassen. Inzwischen sind die Devisenreserven aufgebraucht, die Inflation liegt bei 25 Prozent, wo subventioniertes Brot und Benzin verkauft werden, bilden sich lange Schlangen.
Als sich Morales 2019 zum vierten Mal zum Präsidenten wählen liess, obwohl die Verfassung nur zwei Amtszeiten in Folge vorsieht, putschte das Militär gemeinsam mit einer faschistoiden Rechten. Morales floh vorübergehend ins Exil. Bei der vorgezogenen Wahl von 2020 gewann sein früherer Minister Luis Arce. Morales glaubte, er könne ihn als Marionette benutzen, aber Arce machte nicht mit. Die MAS wurde von einem Machtkampf der beiden Männer zerrissen.
Bei der Wahl vom vergangenen Sonntag wollte Morales wieder selbst antreten, doch der Oberste Gerichtshof untersagte seine Kandidatur. Seither warb er für einen Wahlboykott. Wenn nicht er, dann sollte auch kein anderer Linker gewinnen.
Der offizielle MAS-Kandidat del Castillo ist für ihn genauso ein Verräter wie der 36-jährige Andrónico Rodríguez, der für die Partei Senatspräsident war. Er wäre ein idealer Nachfolger gewesen. Wie Morales kommt er aus der Gewerkschaft der Kokabäuer:innen und ist im Stammland der MAS-Wähler:innen verwurzelt. Doch Morales rief zum Abgeben ungültiger Stimmzettel auf. 19 Prozent taten das, was zeigt, dass der Expräsident durchaus noch Anhänger:innen hat. Rodríguez kam auf 8 Prozent.
Unruhige Zeiten
Seit Monaten verschanzt sich Morales im Chapare, der Hochburg der Kokabäuer:innengewerkschaft. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl vor, weil er 2016 eine Fünfzehnjährige vergewaltigt haben soll. Das Mädchen wurde schwanger. Morales streitet seine Vaterschaft zwar nicht ab, bezeichnet das Verfahren aber als politisch motiviert.
Seine politische Strategie hat er schon durchblicken lassen: Er will eine rechte Regierung, um dann seine Anhänger:innen zu mobilisieren und Bolivien so lange unregierbar zu machen, bis man ihn als Retter ruft. Wenn das gelingt, stehen dem Land unruhige Zeiten bevor.