Humanitäre Katastrophe in Gaza: Aus dem Rampenlicht
Während die internationale Aufmerksamkeit auf dem neuen Krieg liegt, ist die Situation in Gaza unverändert prekär. Nur unter Lebensgefahr erreichen die Menschen die wenigen Verteilzentren für Hilfsgüter.
Seit Israel früh am vergangenen Freitagmorgen den Iran aus der Luft attackierte, schaut die Welt gebannt auf die beiden Länder. Andere Konflikte scheinen vergessen. Doch sterben auch an einem Kriegsschauplatz in unmittelbarer Nähe weiterhin Menschen.
Diejenigen, die derzeit in Gaza zu Tode kommen, sind keine Kämpfer:innen, sondern Zivilist:innen, die verzweifelt versuchen, an Nahrungsmittel zu gelangen. So geschehen etwa am Montag, als laut Agenturmeldungen mindestens 20 Personen bei einer Verteilstelle der von den USA und von Israel unterstützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) erschossen und rund 200 weitere verletzt wurden. Die Kugeln, die sie getroffen haben, sollen laut Augenzeug:innen aus den Gewehren israelischer Soldat:innen stammen.
Ein Sprecher des israelischen Militärs (IDF) schreibt dazu auf Anfrage, trotz Warnungen hätten «Verdächtige mehrfach versucht, sich IDF-Streitkräften zu nähern», und dabei eine Gefahr dargestellt. Die Soldat:innen hätten daraufhin Warnschüsse abgefeuert. Die Frage, ob darüber hinaus auch Menschen erschossen wurden, lässt das Militär unbeantwortet.
Sechzehn Dollar für ein Kilo Mehl
Seit vor einigen Wochen eine knapp dreimonatige israelische Blockade von Hilfslieferungen endete, sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza fast 400 Menschen in der Nähe von GHF-Verteilstellen ums Leben gekommen, mehr als 3000 wurden verletzt. Trotzdem nimmt die Bevölkerung in Gaza weiterhin den gefährlichen Weg auf sich. Weil die Alternative das Verhungern ist.
«Unsere Tage vergehen, während wir Essen auf einem Feuer zubereiten, dessen Rauch uns den Atem raubt. Es ist ein Essen, das kaum Nährwert hat, die Mägen unserer Kinder aber für eine Weile beruhigt.» Das schreibt die 29-jährige Yasmine Jaarour am Montagabend per Whatsapp aus Gaza City im Norden des Streifens. Meistens ässen sie einen Teller Reis oder einen Teller Linsen pro Tag, mehr könnten sie sich nicht leisten. «Ein Kilo Mehl kostet gerade sechzehn Dollar – wenn man es findet.» Die humanitäre Hilfe erreiche nicht diejenigen, die sie bräuchten.
In einem Videoanruf zeigt die zweifache Mutter in schwarzem Hidschab den Ausblick aus ihrem Fenster: Trümmer und verbogenes Metall, so weit das Auge reicht. Im Oktober 2023 sei hier eine Rakete eingeschlagen. Im Hintergrund hallen helle Kinderstimmen. Der neue Krieg im Iran lässt Jaarour verzweifeln. Sie glaubt, dass es nun, da Gaza nicht mehr im internationalen Rampenlicht steht, umso weniger Druck für ein Ende des Krieges geben wird. Derweil verlieren ihre Kinder wichtige Jahre. Seit Kriegsbeginn haben sie keine Schule besucht. «Bis wann denn noch?», fragt sie.
Tage ohne Internet
«Wir fühlen uns jetzt bereits vergessen», sagt der 35-jährige Medienberater Saed Hassouneh, der in Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens lebt. Dass der Kontakt mit ihm und mit Yasmine Jaarour überhaupt möglich war, ist nicht selbstverständlich: Am Donnerstag letzter Woche, einen Tag vor Beginn der Angriffe auf den Iran, fiel in Gaza das Internet aus. Bis die Telekommunikation wiederhergestellt war, dauerte es fast drei Tage.
Er sei extrem besorgt, sagt Hassouneh. «Niemand gewinnt in solchen Kriegen. Nur die Zivilist:innen verlieren.» Im April hat ein Luftangriff seine Ehefrau, die Journalistin Amna Homaid, und seinen elfjährigen Sohn getötet. Jetzt versucht er, seine fünf verbleibenden Kinder durch den Krieg zu bringen. In einem zerbombten Gebäude, mit wiederkehrenden Stromausfällen und ohne ausreichend Nahrung. «Wenn ich eine sichere Gelegenheit hätte, zu gehen, würde ich sie wahrnehmen – für meine Kinder mehr als für mich selbst», sagt er. Er schickt Bilder von sich, auf denen er auf einer Strasse steht: das Gesicht eingefallen, die Wangenknochen hervortretend, die Augenhöhlen vertieft.
Yasmine Jaarour sagt, sie wolle nicht viel. «Wir wollen nur eine sichere Lösung, die Menschenleben rettet.» Man solle diejenigen, die kämpfen wollen, kämpfen lassen. «Aber beschützt das Recht der Zivilist:innen auf Leben! Wir sind keine Nummern, wir sind keine Schlagzeilen. Wir sind Seelen – und haben ein Leben verdient.»