Ukraine in der Not: Auf dem Pulverfass
Die kleine Stadt Marhanez ist täglich von russischen Angriffen betroffen. Geblieben sind vor allem die Älteren, die um ihr Überleben kämpfen. Wie schaffen sie das – und was denken sie über die amerikanisch-russischen Gespräche?

Bei schönem Wetter ist die Stimmung unter den Bewohner:innen der südukrainischen Kleinstadt Marhanez angespannt. Dann haben die gegnerischen Drohnen nämlich leichtes Spiel, erklärt Bürgermeister Hennadi Borowik, neigt seinen Kopf über die linke Schulter und setzt mit dem Mund so an, als würde er gleich spucken. «Tfü, tfü, tfü», sagt er dabei, die Geste soll nach einem ukrainischen Aberglauben vom Unglück befreien. «Hoffentlich passiert heute nichts», erklärt er mit seiner tiefen, krachenden Stimme. Doch so recht scheint auch er nicht daran zu glauben. Dann nimmt der Sechzigjährige schnaufend die Stufen hinauf in den dritten Stock des kastenförmigen Rathauses, in dem einige Fenster aufgrund vergangener Explosionen mit Spanplatten ausgekleidet sind. Borowik geht an das Ende eines schmucklosen Flurs und zieht die weisse Gardine vor dem Fenster zur Seite, das nicht mit Holz geschützt ist. In der Ferne ist das Kernkraftwerk Saporischschja mit blossem Auge erkennbar.
Die Nachricht, dass vor kurzem der Sarkophag zum Schutz des Atomkraftwerks Tschernobyl beschädigt wurde, das sich rund 500 Kilometer von Marhanez entfernt befindet, ruft bei Borowik kaum eine Reaktion hervor. «Wir sitzen hier auf einem Pulverfass», sagt er mit müdem Blick. Damit meint er nicht nur das Kraftwerk, in dessen Nähe in den vergangenen Jahren immer wieder Explosionen und Brände dokumentiert wurden. Die Artilleriegeschosse, die in wenigen Sekunden von der einen auf die andere Uferseite schnellen, lassen den Bewohner:innen keine Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.
Am ausgetrockneten Fluss
Vor dem Krieg lebten 50 000 Menschen in Marhanez, in den vergangenen drei Jahren, in denen die russischen Truppen Unheil über die Gegend brachten und mitunter das andere Ufer des Dnipro besetzten, haben mehr als 20 000 Bewohner:innen ihre Heimatstadt verlassen. Die Strassen wirken wie ausgestorben. Nachdem 2023 auch noch der Kachowka-Staudamm zerstört worden war, trocknete das Flussbett grösstenteils aus, in Orten wie Marhanez war wochenlang die Wasserversorgung unterbrochen. Das Ufer des Flusses war für die Bewohner:innen lange Zeit ein Naherholungsgebiet, ein Ort, an dem man spazieren, fischen und schwimmen konnte. «Mittlerweile ist es natürlich verboten, zum Fluss zu gehen», sagt der Bürgermeister. Die Erfahrung zeigt, dass die russischen Angreifer Zivilist:innen nicht verschonen.
An der Frontlinie

Borowik holt einen grossen Schlüssel hervor und sperrt die Holztür zu seinem Bürokabinett auf. An den Wänden hängen mehrere Dreizackembleme, eine gelb-blaue Abbildung des ukrainischen Staatsgebiets – mitsamt der Krim. In der Mitte des Raumes steht ein wuchtiger Schreibtisch, darauf liegt ein Schwert. «Ein Kosakenschwert», spezifiziert Borowik, zieht es aus seiner Scheide heraus, betrachtet es. Wenn nötig, werde er seine Stadt auch damit verteidigen, sagt er. «Unser Volk hat sich im Jahr 2014 mit der Maidanrevolution klar entschieden, wohin es gehen soll. Wir wollen Teil der Europäischen Union sein.»
Zu Beginn des Krieges habe er in seiner Schublade Handgranaten für den Ernstfall gehortet. Zum Beweis scrollt er durch sein Smartphone, bis er einen englischsprachigen Zeitungsbericht aus jener Zeit findet, mit einem Foto, das ihn mit einer Granate in jeder Hand zeigt. Darüber steht der Satz: «We are ready for you, Vlad». Der Artikel stammt aus dem ersten Jahr der russischen Invasion, als von den meisten im Land mit klarer Überzeugung gesagt wurde, dass die Ukraine siegen werde, dass das gesamte Territorium zurückerobert werde. Die Stimmung hat sich seither geändert, das erkennt auch Hennadi Borowik an.
Was im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz besprochen worden sei und wie sich die Debatten im Ausland entwickelten, dafür hätten die Menschen in Orten wie Marhanez keine Kapazität, sagt Borowik. Man lebe von Tag zu Tag, ohne Pläne machen zu können, weil das Leben jederzeit vorbei sein könne. «Drei Jahre lang haben wir alles getan, damit wir eine Zukunft haben», sagt er. «Das sind drei Jahre, die man uns genommen hat. Wenn Russland nun eine Pause erhält, werden die Angriffe zu einem späteren Zeitpunkt weitergehen.»
Dass eine solche Entwicklung wahrscheinlich ist, darüber macht sich vor Ort niemand Illusionen. In den vergangenen Wochen begann in der ukrainisch kontrollierten Gegend der Ausbau neuer Schützengräben. Zahnförmige Panzersperren aus Beton säumen die Felder, die weit hinter Marhanez liegen. Bei den Diskussionen darüber, wie der Krieg enden könnte, gehe es nicht nur darum, dass die Waffen endlich schwiegen. «Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen wieder zurückkommen», sagt der Bürgermeister.
Diskrepanz zur Hauptstadt
In Marhanez, benannt nach dem Manganerz, das hier einst gefördert wurde, haben die Menschen nicht das Problem, dass die Arbeit fehlt. Die Unternehmen und Geschäfte, die noch nicht abgewandert seien, suchten verzweifelt Arbeitskräfte, erklärt Andri Woloschyn, der Geschäftsführer der hiesigen Brotfabrik, während er seinen Wagen durch die kleinen Strassen lenkt. Das Fenster hat er heruntergelassen, nachdem in der Ferne mehrere Explosionen zu hören waren. Immer wieder lauscht er, ob in der Luft eine Drohne zu hören ist oder das pfeifende und surrende Geräusch der Geschosse.
Mit finsterem Blick zeigt der Sechzigjährige auf die Häuser, die vorbeiziehen. Hier links hat eine Drohne eingeschlagen, rechts auch. Manche Häuser sind von den Drohnenangriffen zerstört oder wurden notdürftig repariert. Vor dem Eingang der lachsfarbenen Fabrik, in der schon zu Sowjetzeiten Brot gebacken wurde, zieht er sein Smartphone hervor und spielt Videos ab, die dokumentieren, wie nachts auf dem Gelände der Fabrik eine Rakete einschlug. Sie beschädigte die Autos, die zum Ausliefern der Waren verwendet werden. Die Versicherungen zahlten in so einem Fall nichts, sagt Woloschyn.
Beim Betreten der Fabrik schlägt einem der Geruch von frisch gebackenem Brot entgegen. In der Halle stehen Frauen in ihren Fünfzigern und spritzen routiniert Konfitüre in die Brötchen. Von den einst über 250 Mitarbeitenden sind laut Woloschyn nach drei Jahren Krieg etwas mehr als die Hälfte geblieben. Die Brotfabrik zählt nicht zur kritischen Infrastruktur und ist von der Mobilisierung, die auch in dieser Ortschaft weitergeht, stark betroffen. «Die Männer, die wir brauchen, um das Brot in die kleinen Ortschaften entlang des Flusses auszuliefern, sind weg», sagt er. Er beschäftige nun vor allem Fahrer, die mindestens sechzig Jahre alt seien und damit nicht mehr in die Armee eingezogen würden. Für sie stellt die körperliche Arbeit oft eine grosse Herausforderung dar.
So wie den Bewohner:innen in Marhanez geht es zahlreichen Ortschaften fernab der urbanen Zentren. Sie drohen immer verlassener zu werden. Die Jüngsten, die Stärksten, ziehen freiwillig oder auf Befehl in den Krieg. Zurück bleiben die älteren und kranken Menschen, denen die finanziellen Mittel und die Kraft fehlen, neu anzufangen. Und auch die Kinderzahl nimmt ab. Die Diskrepanz zu Städten wie Dnipro und Kyjiw, die zwar ebenfalls dauernd aus der Luft angegriffen werden, ist gross. Während in den Gesprächen in den Kaffeehäusern im geschäftigen Kyjiw darauf gehofft wird, dass der US-Sondergesandte Keith Kellogg bei einem Besuch ein besseres Verständnis für die Lage vor Ort erhält, sind die politischen Debatten in Orten wie Marhanez weit weg.
Ernüchtert, frustriert, verängstigt
«Es gibt kaum Perspektiven», sagt Sozialarbeiterin und Psychologin Oxana Honcharuk, die im neu errichteten «Help Point» des österreichischen Hilfswerks International arbeitet. Die Organisation muss nach dem Einfrieren der US-Hilfsgelder die wachsende Nachfrage nach psychosozialen Angeboten und Hilfslieferungen selbst stemmen. Die Einrichtung befindet sich zwanzig Meter vom Rathaus entfernt. In den neu renovierten Räumen stehen Regale mit von Kindern gebastelten Knetfiguren, Yogamatten und Sitzkissen. Ansonsten gebe es in Marhanez kaum Treffpunkte für die Bewohner:innen, erklärt die 55-Jährige. «Viele Menschen leiden unter den konstanten Angriffen und der sozialen Isolation», sagt Honcharuk, die selbst aus dem nahe gelegenen Nikopol nach Marhanez geflohen ist und nun ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen in ihren Wohnungen besucht und versorgt.
Unter ihnen bemerke sie mittlerweile grosse Gegensätze. Es gebe jene, die sehr negativ eingestellt seien, was die Zukunftsaussichten angehe. Menschen, die jemanden verloren hätten und allein gelassen worden seien. Und es gebe solche, die noch immer motiviert seien. «Man selbst denkt sich: Wenn man noch alle Arme und Beine hat, hat man kein Recht dazu, pessimistisch zu sein», sagt Honcharuk. Sowohl ihr Ehemann als auch ihr Schwager kämpfen an der Front. «Sie müssen glauben können, dass das alles nicht umsonst ist.»
Die aktuellen geopolitischen Debatten, die selbstgerechten Treffen der US-amerikanischen und russischen Vertreter in Riad, wo ohne die Ukraine über mögliche Lösungen für den Krieg diskutiert wird, lösen bei vielen im Land Ernüchterung, Frustration, Ängste aus. Doch bei den Menschen in Marhanez, wo im Fall von Gebietsabtretungen und einem Waffenstillstand die Nachbarschaft zu den russischen Truppen zum Dauerzustand werden könnte, würde das alles keinen nachhaltigen Frieden bedeuten, sagt Bürgermeister Borowik. Mehr als 120 Einwohner:innen seien seit 2022 in den Kämpfen gefallen. Dazu kommen Dutzende Zivilist:innen, die während der konstanten Angriffe getötet oder verwundet wurden.
Auch an diesem Tag nützt der Aberglaube, der das Unheil abwenden sollte, wenig. Ein Artilleriegeschoss schlägt am späten Nachmittag im Rathaus ein, die Explosion lässt die Fenster im oberen Stock des daneben gelegenen Help Point zerbersten. Mindestens vier Verletzte, vermeldet die Militäradministration.