In mir die Wände (16) : Endlich bald
Es gibt dieses eine Foto aus dem Flüchtlingsheim in Rorschach: Silvesterabend 1988, wir sind seit ein paar Wochen in der Schweiz, gerade erst dem Kanton St. Gallen zugeteilt worden. Auf dem Bild ist meine Mama zu sehen, wie sie zur Musik tanzt. Es ist ein Moment der Leichtigkeit: für einen Augenblick ganz im Hier und Jetzt. Vielleicht fühlte sie in ihm eine leise, zuversichtliche Vision unserer Zukunft – nicht als verkopften Plan, sondern als Bauchgefühl, das sie tragen würde.
Als wir 1988 mit nichts in den Händen in die Schweiz kamen, wussten wir nicht, wie lange, kräftezehrend und langwierig unser Asylprozess werden würde. Ganze sieben Jahre nahm er in Anspruch. In dieser Zeit gab es ein einziges Wort, an dem sich meine Eltern festhielten: bald. Es war einerseits ein Versprechen auf eine Zukunft, in der man das Leben weiter als ein halbes Jahr im Voraus denken konnte. Andererseits aber auch wie ein Passwort zu einem Schlossriegel einer Schatztruhe – eines, das einem das eigene Leben vorenthält. Dieses bald hielt uns auf Abstand zum Jetzt, liess Entscheidungen schweben, legte das Leben in eine endlos erscheinende Warteschleife.
Hoffnung ist oft pathetisch, fast religiös: Sie richtet sich auf ein Aussen, auf einen Moment der Erlösung, und damit auch auf ein Irgendwann. Optimismus wiederum kann blind machen, weil er das Schlechte übersieht oder kleinredet. Zuversicht hingegen ist etwas anderes. Zuversicht ist leiser, nüchterner, aber proaktiver als die Hoffnung und der Optimismus – und auch gerade deshalb radikaler. Sie behauptet nicht, dass alles gut wird, sondern dass der Mensch fähig ist, es gut zu machen, gut zu handeln, selbst unter widrigen Umständen. Zuversicht hofft nicht blind auf einen guten Ausgang oder glaubt, dass alles gut kommen wird – sondern nimmt die Umstände als realen Rahmen, die sich nicht einfach von selbst ändern, sondern verändert werden können.
Zuversicht ist ein tief verwurzeltes Vertrauen darauf, dass man die Fähigkeiten besitzt, mit Herausforderungen umzugehen und die Dinge zum Positiven zu wenden. Mut entsteht in ihr nicht aus Gewissheit, sondern aus der Entscheidung, trotz Ungewissheit offen zu bleiben. Zuversicht schliesst nicht ab, sie härtet nicht aus. Sie öffnet, reicht die Hand; sich selbst, den anderen, der Welt, dem Jetzt und der Zukunft. In ihr liegt gar ein stiller Widerstand gegen das Zermürbende, gegen das Abgestumpfte, gegen das Unbewegliche. Zuversicht ist verspielt, gar naiv in einem kindlichen Sinn. Sie sagt: Auch im Ungewissen darf gelebt, auch im Unfertigen darf geliebt, getanzt und gehofft werden.
1995, nach sieben Jahren, wurde unser Asylprozess entschieden: Wir wurden aufgenommen. Das bedeutete für uns viel mehr als nur die Änderung eines formalen Status. Es bedeutete eine Niederlassungsbewilligung und endlich mehr als nur geduldet zu sein. Es war endlich bald geworden.
In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche erscheint der letzte Text der Serie.