René Keller Tod in Parma

«Wurde ein Extremist des ‹Proletarischen Kampfes› verhaftet?», fragte der «Giornale di Bergamo» in einer Schlagzeile vom 11. Juli 1975. Es ging um die Festnahme des 27-jährigen René Keller zwei Tage zuvor im Dorf Roncola San Bernardo. Beteiligt daran waren auch italienische Antiterroreinheiten, und so spekulierte die Zeitung, dass ihnen ein Anführer ebendieser «linken revolutionären Bewegung» ins Netz gegangen war.
Erstmals gross in Erscheinung getreten war Keller sieben Jahre zuvor, nachdem er von Basel nach Zürich gezogen war. Am 29. Juni 1968 leitete er mit einem Megafon von einer Verkehrskanzel herab beim Central die Demo für ein Jugendzentrum im Globusprovisorium. «Ich war vorher völlig apolitisch», sagte er später im Prozess zum Globuskrawall. Er sei dann verhaftet, in den Globus gebracht und bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt worden. «Ein Polizist sagte: ‹Dä Sauhund söll verrecke.›» Als «Rädelsführer» angeklagt, wurde er schliesslich freigesprochen.
Er blieb politisch aktiv: in der Kommune Hegnau, im Bunker und in der Heimkampagne, dann bei den Roten Steinen. Der gelernte Maschinenmechaniker war so etwas wie die Personifizierung jener Klasse, die die Steine organisieren wollten. Ein Scheidungskind, das seinen Vater kaum kannte, die Mutter selten sah und einen Grossteil der Jugend in Heimen verbrachte. «Am 15. April 1948 verhilft ein Tritt in den Bauch meiner Mutter zu einer Frühgeburt», beginnen handschriftliche Erinnerungen an seine Kindheit, die er im italienischen Gefängnis festhielt.
«René hat nie grosse Worte verloren; vielmehr liebte er die Tat», schrieb Dieter Oswald, ein Aktivist vom «Klassenkampf», in seiner Autobiografie «Gut schallbar» über seinen Freund. «Ihn umwehte die Aura des Politrockers, wie wir damals genannt wurden, und René war ganz ganz cool. Er trug, wie ich, Spanish Boots und anstelle meiner Lederjacke ein Jeans-Gwändli.»
Im Nachgang zur Bunkerbewegung kam Keller immer stärker in Kontakt mit Drogen. Im Herbst 1974 brach er zu einer ausgedehnten Indienreise auf. Dort infizierte er sich mit Malaria. Er kehrte zurück, auch um sich den Behörden zu stellen, die ihn wegen Drogen- und Diebstahldelikten suchten. Zuerst wollte er sich allerdings kurieren. «Wir konnten ihn in einem, wie wir meinten, coolen Landhaus bei Bergamo unterbringen», schrieben die Roten Steine im «Gasseblatt».
Gleichzeitig geriet Anita Barrier in eine Überwachungsaktion der Bundespolizei. Diese hatte erfahren, dass sie «medizinische Hilfe für einen Genossen in Italien» organisieren wollte. Es könnte sich um ein Mitglied der Roten Brigaden handeln, mutmasste die Bupo. Zürcher Polizisten legten sich vor der Kommune der Roten Steine in Adliswil auf die Lauer, verpassten aber die Abfahrt von Barriers Auto. Anhand der Fahrzeugnummer konnten italienische Beamte nach dem Grenzübertritt die Verfolgung wiederaufnehmen, worauf es zur Aktion in Roncola kam.
In Italien lagen keine Anklagen gegen Keller vor. Weshalb sich seine Auslieferung wegen des anstehenden Prozesses in Zürich so lange hinzog, obwohl Schweizer Behörden wiederholt nachfragten und sein Anwalt Druck aufsetzte, bleibt unklar. Im Gefängnis von Brescia sei er «zweimal von Faschisten zusammengeschlagen» worden, schrieb Keller aus der Haft. Er wurde nach Parma verlegt, «eine Hölle für sich, die Lebensbedingungen sind scheusslich, meine Zelle ist im Erdgeschoss, ständig feucht und modrig», schrieb er. «Ich trat letzthin in den Hungerstreik für zwölf Tage, um mit dem Prokurator zu sprechen, wollte wissen, wie lange ich noch hier sitzen soll für nichts.» Am 16. Januar 1976 wurde er tot in seiner Zelle aufgefunden.
Das Fazit der Untersuchung durch die italienischen Behörden: Suizid durch Erhängen. Für die Roten Steine war es Mord: Sie verlangten eine Überführung der Leiche in die Schweiz und eine zweite Obduktion. Kellers Mutter verweigerte diese. Auch wollte sie nicht, dass seine Freund:innen bei seiner Beisetzung auf einem Friedhof in Riehen erschienen. «Wären es richtige Freunde gewesen, dann hätten sie lieber ihrem Sohn noch in der Schweiz geholfen, auf gerade Wege zu kommen», sagte sie gemäss einer Aktennotiz des Konsularischen Schutzes.