Mobile Kommunen und der Niedergang (3) Weil es auf der Strasse nicht mehr läuft, gibts in der Kommune umso mehr Psychodiskussionen sowie Drogen- und Alkoholabstürze: Die Roten Steine haben den Blues.

Mitte der siebziger Jahre ist die autonome Bewegung an einem Tiefpunkt angelangt. In Zürich fehlt nach der Räumung der Hegibach-Besetzung ein Treffpunkt. Die Bunkerbewegung ist am Ende. Die Polizei macht Jagd auf angebliche «Terroristen», auch in Schweizer Gefängnissen sitzen nun politische Gefangene. Die Roten Steine arbeiten zusammen mit Leuten vom «Klassenkampf» in der Roten Hilfe, um aus politischen Gründen Inhaftierte zu unterstützen, und gründen «Knastgruppen», die auch andere Gefangene betreuen.
Daneben konzentrieren sich die Roten Steine auf die «Gasse». Als potenziell revolutionäres Subjekt werden jene gesehen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen. Programmatisch ist denn auch der Titel ihrer Zeitung, die sie ab 1976 herausgeben: «Gasseblatt». In der ersten Nummer wird umschrieben, wer angesprochen werden soll: «Ex-Windenvögel [Heimkinder, Anm. d. Red.], Arbeitslose, Gelegenheitsarbeiter, Fabrikarbeiter mit eintöniger Büez, Verlauste, Kommunarden, Freaks, Drogenleute, all jene, die nicht gewillt sind, sich täglich vom Fabrikterror oder anderer Schufterei fertigmachen zu lassen.»
Pius Frey, einer der eifrigsten «Gasseblatt»-Macher:innen, erinnert sich: «Wir haben uns etwa an der deutschen Bewegungszeitung ‹Agit 883› orientiert.» Die Texte sind mit Schreibmaschine getippt, die Titel von Hand geschrieben. Fotos, Ausgeschnittenes aus anderen Zeitungen und Büchern, teils sexistische Undergroundcomics zeugen von einem wilden Mix und nehmen das Punklayout von Bewegungszeitungen der achtziger Jahre vorweg. Gedruckt wird das «Gasseblatt» in St. Gallen, die Auflage liegt laut Frey bei 2000 Exemplaren. Verkauft wird die Zeitung, so Frey, «auf der Gasse und in Spunten» sowie in einschlägigen Läden.
Das Leben, die Arbeit und politische Aktivitäten zu verbinden, wird bei den Roten Steinen immer wichtiger. Es geht darum, sich vom System nicht vereinnahmen zu lassen, als Gruppe zu überleben. Fast zeitgleich mit dem «Gasseblatt» gründen die Roten Steine in St. Gallen, Basel und Zürich mobile Kommunen, also Häuser und Wohnungen, die von allen genutzt werden. Diese werden zu den fixen Bezugspunkten der Gruppe, aber auch einer breiteren Szene. «In St. Gallen haben wir 1977 ein Haus an der Wattstrasse im Quartier Riethüsli gekauft», sagt Pius Frey. Teil der Kommune «Hüsli» ist auch eine Lederwerkstatt, in der Kleider geschneidert und geflickt werden, die aber auch als eine Art Infoladen dient. «Wir machten im Dachstock Feste und Konzerte, zu denen auch viele Unpolitische kamen. Wir wurden zu einer Art Fluchtpunkt für Menschen am Rand der Gesellschaft», erinnert sich Frey.
Radikale Flanke der Anti-AKW-Bewegung
1977 beteiligen sich die Steine am Kampf gegen den Bau eines neuen Atomkraftwerks in Gösgen. Es sind Monate, in denen die Gruppe wieder stärker nach aussen auftritt. Der Widerstand gegen neue AKWs ist Mitte der Siebziger auf dem Höhepunkt. 1975 demonstrieren in Kaiseraugst 16 000 Menschen gegen eine neue Anlage. Das Gelände wird für elf Wochen besetzt, mit Unterstützung lokaler Bäuerinnen und Bürger. Die Behörden knicken aufgrund des breiten Protests ein und legen das Projekt auf Eis.
Auch gegen den Bau des AKW Gösgen formiert sich breiter Widerstand. An Pfingsten 1977 demonstrieren rund 10 000 Menschen vor dem Baugelände. Am 25. Juni gibt es einen ersten Besetzungsversuch, der von der Polizei jedoch vereitelt wird. Eine Woche später marschieren rund 6000 Personen Richtung Baugelände. Koni Frei, ein Organisator des Umzugs, erinnert sich: «Die Demoleitung hatte nie wirklich vor, eine langfristige Besetzung zu machen. Es war von Anfang an mit der Polizei abgemacht, dass man irgendwann abbricht.» Doch die Roten Steine fahren mit dreissig Leuten an die Demo und versuchen, dem Protest eine neue Dynamik zu geben. «Dass sich die Anti-AKW-Bewegung gewaltlos verhielt, störte uns. Wir wollten das ändern», erinnert sich Marco Rimoldi.
«Sie formierten einen eigenen Demozug, dem sich mehrere Hundert Leute anschlossen», sagt Koni Frei. «Dann haben sie eine Barrikade gebaut, die auch wirklich nicht passierbar war, und irgendwann zündeten sie sie an.» Die Blockaden der friedlichen wie auch der gewaltbereiten Gruppen dauern keine 24 Stunden, dann wird alles von einem rund tausendköpfigen Polizeiaufgebot mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen geräumt. «Es war das letzte Mal, dass mir die Roten Steine positiv in Erinnerung blieben», sagt Frei.
Auch an der berüchtigten Demonstration am 31. Juli 1977 gegen den Bau des Schnellen Brüters Superphénix bei Malville in Frankreich beteiligen sich die Steine. «Wir gingen naiv dorthin», erinnert sich Jonny, den alle so nannten und der damals neu zur Gruppe gestossen war. «Wir hatten wahnsinnig Glück, dass uns nichts passiert ist.» Die französische Bereitschaftspolizei CRS griff hart gegen die rund 60 000 Demonstrant:innen durch, um eine Besetzung zu verhindern. «Es war ein Katz-und-Maus-Spiel. Wir sind durch Maisfelder gerannt, über uns Helikopter. Irgendwann waren wir total erschöpft. Dann hörten wir, dass jemand voll von einer Tränengasgranate getroffen worden war. Es war ein totaler Schock.» Der Physiklehrer Vital Michalon stirbt noch auf dem Gelände an den Folgen eines Lungenrisses. Hunderte AKW-Gegner:innen werden zum Teil schwer verletzt. Rimoldi sagt: «In Malville ist die Bewegung trotz ihrer eindrücklichen Gegenwehr kaputtgemacht worden. Es war ihr Höhe- und Endpunkt.»
Dann kommt der Herbst 1977. Ein RAF-Kommando kidnappt am 5. September in Deutschland Hanns Martin Schleyer, den Vorsitzenden des Arbeitgeberverbands. Am 13. Oktober entführt ein palästinensisches Kommando eine Lufthansa-Maschine nach Mogadischu. Am 18. Oktober werden die inhaftierten RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen entdeckt. Einen Tag später findet die Polizei die Leiche Schleyers. Im «Gasseblatt» scheint Bewunderung für die Kompromisslosigkeit der RAF durch, ihren «endgültigen Bruch mit dem System». An einer Demonstration gegen polizeistaatliche Tendenzen in der Schweiz entrollen die Steine drei Tage nach der Ermordung von Schleyer ein Spruchband mit der Aufschrift: «Wir haben nichts zu verschleyern, wir sind RAF-Sympathisanten». Die Demo wird deswegen von den Organisator:innen kurzerhand aufgelöst.
Am 20. Dezember 1977 werden an der Schweizer Grenze die Deutschen Gabriele Kröcher-Tiedemann und Christian Möller nach einem Schusswechsel verhaftet. Zwei Beamte werden schwer verletzt. Die Verhafteten gehören zur Bewegung 2. Juni. Sie werden später in Bern wegen versuchten Mordes zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Die Roten Steine setzen sich für Kröcher-Tiedemann und Möller ein, die aus Protest gegen die Isolationshaft im Berner Untersuchungsgefängnis in einen Hungerstreik treten.
Marco Rimoldi sagt: «So wie sie zu werden, war nie unser Ziel. Wir wussten, mit solchen bewaffneten Aktionen überzeugen wir niemanden. Aber wir waren mit ihnen solidarisch.» Die Polizei überwacht die Kommunen der Roten Steine erneut, hört ihre Telefone ab, nicht zuletzt auch wegen des Verdachts, sie würden «Terroristen» unterstützen. Gelegentlich veranstaltet sie Razzien.
Autonome, teils aus dem Umfeld des aufgelösten «Klassenkampfs», wählen einen anderen Weg: Auch sie leben weiter in WGs, agieren aber vorsichtiger als die Roten Steine. Nachts werden ab 1974 direkte Aktionen von einer Gruppe namens «Do it yourself» verübt: So werden etwa Autos von Exponenten der Stromindustrie in Brand gesetzt oder ein Informationspavillon beim geplanten AKW Kaiseraugst gesprengt. Die lose agierenden Gruppen aus Zürich, Basel, Genf und dem Tessin werden von der Polizei nie gefasst. Giorgio Bellini bestätigt erst 2024, kurz vor seinem Tod, gegenüber der NZZ seine Beteiligung.
Mobile Kommunen
Den Roten Steinen ist das Leben im Hier und Jetzt wichtig. Komplexe klandestine Aktionen gegen «das System» sind nicht ihr Ding, dafür sind sie viel zu chaotisch. Sie sehen sich als eine Art Vorhut der Bewegung, «die den neuen Menschen finden will und ein Leben, in dem sich dieser Mensch entfalten kann», wie es im «Gasseblatt» heisst. Zentrales Element dabei sollen die mobilen Kommunen sein. Jonny, der nach Malville in eine Kommune der Roten Steine einzieht, sagt: «Die Idee des Austauschs unter den Kommunen fand ich gut. Doch es war auch ein Herrschaftsinstrument.» Es gilt die Regel, die Kommune alle drei Monate zu wechseln. Laut Jonny war es meist Guy Barrier, der die Leute anwies umzuziehen. «So wurden Strukturen von aufkommenden Beziehungen auseinandergerissen. Liebespaare wurden getrennt.»
Zweierbeziehungen sind bei den Roten Steinen verpönt. Sie würden zu Trägheit führen und den revolutionären Kampf hemmen, heisst es. Im «Gasseblatt» schreibt eine Gruppe aus Basel dazu: «Auch bei uns gab es zeitweise Stagnation. Seit wir als Grosskommune mobil sind, hat sich das schlagartig geändert. Zweierbeziehungen lösen sich auf, Leute sind plötzlich aus ihrer Lethargie erwacht, ständige Auseinandersetzungen zwischen jeder und jedem, man entdeckt plötzlich sein Bedürfnis nach Aktivität und Kommunikation.»
Die zahllosen Diskussionen innerhalb der Gruppe über ganz persönliche Dinge, so schildern es heute alle von der WOZ Befragten, sind für viele ein grosser Psychostress. Marco Rimoldi sagt: «Oft sind da zehn Leute zusammengesessen und haben über einen Psychohänger einer einzelnen Person gesprochen. Alle fanden es furchtbar wichtig. Ich fand es unerträglich. Mir war das viel zu intensiv und alkohollastig. Den meisten hat das nicht gutgetan. Sie waren eingeschüchtert und haben gar nichts mehr gesagt. Nur noch ‹mea culpa›. Ich bin da oft rausgelaufen.»
«Die Sessions gingen stundenlang, waren zum Teil sehr verletzend», sagt auch Frey. Das bestätigt Jonny: «Es war hart, wenn man an einer Sitzung drankam. Man wurde blossgestellt, deine Beziehung zerpflückt. Und dann musstest du noch hören, dass Guy die letzte Nacht mit deiner Freundin verbracht hat.» Ein Mitglied der Roten Steine macht in der Kommune in Zürich wegen einer unglücklichen Liebesbeziehung einen Suizidversuch, wie Marco Rimoldi erzählt: «Wir schliefen alle im selben Raum. Als ich aufwachte, hörte ich seltsame Geräusche und ging raus. Da stand er mit einem Sturmgewehr. Als er mich sah, drückte er ab. Er überlebte. Die Kugel ging durchs Kinn, sein Gehirn wurde glücklicherweise nicht geschädigt.»
Auch der exzessive Drogen- und Alkoholkonsum in den mobilen Kommunen trübt die Stimmung. «Ich erinnere mich noch gut, wenn sie morgens auf dem Sofa sassen und in ihren Ellenbogen nach Stellen für den nächsten Schuss suchten», sagt Dany, der in den mobilen Kommunen nur sporadisch zu Besuch war. «Fixer zerstören sich selber statt ihre Feinde», heisst es im «Gasseblatt». Das war wohl auch ein Appell gegen innen. Jonny erinnert sich, wie sie zusammen als Gruppe nach Berlin an den Autonomiekongress «Tunix» fuhren. «Dort bekam ich als Junger von Guy Barrier den Auftrag, für die Gruppe Heroin auf der Gasse aufzutreiben. Man muss sich das vorstellen: Gegen aussen gab man sich als militante Politgruppe, dabei war man von Heroin durchdrungen.» Jonny sagt, er habe letztlich kein Heroin gekauft, sondern in der Gruppe behauptet, der Dealer habe ihn über den Tisch gezogen.
Heroinabhängigkeit ist auch ein zentraler Grund, weshalb sich viele der Frauen in den Roten Steinen prostituieren. Bei anderen linken Gruppen stösst dies auf Unverständnis. Lilo König, Mitbegründerin der Frauenbefreiungsbewegung (FBB), sagt, es habe Frauen bei den Steinen gegeben, die das sehr bewusst und selbstbestimmt gemacht hätten. Sie sahen sich nicht als Opfer. «Das hat mich beeindruckt.» Pius Frey sagt: «Prostitution wurde bei den Roten Steinen fast ein wenig glorifiziert.»
Eine neue Bewegung
Ende der Siebziger werden in Basel und Zürich wieder Häuser besetzt, erneut ertönt der Ruf nach einem AJZ. Im Nachhinein scheint es so, als ob sich hier die ersten Vorboten der Achtzigerbewegung bemerkbar machen. Nachdem in Basel die Polizei Anfang Juni 1978 zwei Häuser an der Bernoullistrasse geräumt hat, die eine Woche zuvor unter anderem von den Roten Steinen besetzt worden waren, kommt es in der Stadt zu kleineren Demonstrationen und Aktionen unter dem Namen «Umherschweifendes AJZ». So dringen rund fünfzehn Vermummte ins Büro des Basler Vormundschaftsvorstehers ein, werfen mit Akten um sich und besprayen die Wände. In Zürich wird fast zur selben Zeit das Schindlergut besetzt, eine herrschaftliche Villa, die vom Verein Zürcher Jugendhaus gemietet ist. Zuvor schon hat dort ein «Autonomiefest» mit mehreren Hundert Personen stattgefunden. Die Besetzung wird schliesslich von der Polizei beendet, zwei Leute werden verhaftet: Guy Barrier und Marco Rimoldi.
Beide sind also noch mittendrin in diesem neuen Aufflackern einer Jugendbewegung. Und dennoch: Es ist die Zeit des Niedergangs der Roten Steine. Ein Auflösungsprozess setzt ein. Mit ihrer Mackermentalität stossen sie bei vielen der jungen, neu Dazugekommenen auf Ablehnung. Und die internen Reibereien werden immer grösser: In Basel formiert sich eine Oppositionsgruppe gegen Guy Barriers Führungsstil. Jonny spricht von einer «Dynamik», die sich entwickelt: «Wir sagten, wir lassen uns das nicht mehr bieten. Wir sind doch die Proleten, sie sind die Upperclass. Wir begannen, ihr Spiel zu durchschauen. Dass jeder irgendwann an die Kasse kommt und wir gegeneinander ausgespielt werden.» Auch die Frauen in der Gruppe distanzieren sich von den Mackern.
Die Spaltung und die Auflösungserscheinungen bei den Roten Steinen widerspiegeln sich auch in ihrer Zeitung, die nun «Gasseblues» heisst. Pius Frey sagt: «Es ist einfach auseinandergebröckelt, wir wollten nicht mehr so ein Leben führen.» Die verbliebenen Männer üben im «Gasseblues» etwas Selbstkritik an den männerdominierten Strukturen der Gruppe – der «Typenscene» und der Art, «revolutionäre Ziele mit patriarchalischen Mitteln durchsetzen zu wollen».
So werden die Roten Steine Anfang der Achtziger, als Zürich brennt und Tausende Jugendliche erneut ein autonomes Jugendzentrum fordern, zu einem Mythos. Schauergeschichten machen die Runde, Guy Barrier wird gelegentlich an Sitzungen hart angegangen oder gar ausgeschlossen, bleibt aber Teil der Bewegung und spielt – ausgerechnet – in den Diskussionen über den Umgang mit harten Drogen im Zürcher AJZ 1980 eine nicht unwesentliche Rolle. Bald gerät die Gruppe in Vergessenheit. Doch aus der Distanz betrachtet scheint klar: Die Roten Steine haben das Feuer der autonomen Bewegung durch die siebziger Jahre getragen und mit dazu beigetragen, dass dieses Anfang der Achtziger wieder lichterloh brannte.