Die Roten Steine treten in Aktion (2) Sie wollen die Lehrlinge und Schüler:innen organisieren – mit mässigem Erfolg. Dann werden die Roten Steine zu Hausbesetzer:innen und erringen so ein neues Zentrum. Am Ende kommt es zum Showdown mit der Polizei.

Das «Manifest 1972» erscheint auf rotem Papier, darauf ein gelber Stern: «Wir glauben, dass keine der bestehenden politischen Parteien bereit ist, unsere Interessen zu vertreten. Das parlamentarische Scheisstheater ist nur da, um die Diktatur der Bonzen zu verdecken.» Deshalb wolle man den Kampf zur «Erfüllung unserer Bedürfnisse» selber aufnehmen durch die «Selbstorganisation der proletarischen Jugend». Am Ende folgen die Aufrufe: «Ausbildung statt Ausbeutung!», «Schluss mit dem Arbeitsfrieden!», «Auf zum Klassenkampf!», «Alle Macht dem Volk!». Gezeichnet ist das Manifest mit: «Rote Steine, Lehrlings- und Arbeitsgruppe der Autonomen Republik Bunker».
Das Gründungsdokument der Roten Steine orientiert sich in Aufbau und Ausdrucksweise am Zehn-Punkte-Programm der Black Panthers in den USA. Ihr Name wiederum stammt von einem Berliner Lehrlingstheater, das 1971 zusammen mit der Band Ton Steine Scherben in Schweizer Städten auftrat. Der Kern der Gruppe umfasst anfänglich ein gutes Dutzend Personen, darunter Marco Rimoldi, René Keller, Anita und Guy Barrier, das engere Umfeld besteht aus über dreissig, die grosse Mehrheit ist männlich.
Nach dem Scheitern der Proletarischen Kampforganisation suchen die Autonomen einen neuen Ansatz und eine andere Organisationsform. Neben der Orientierung an den Black Panthers haben es ihnen die Rocker angetan. Die Gruppe besteht wie bei den Hells Angels nicht nur aus Vollmitgliedern, sondern auch aus «Prospects», Aufnahmekandidat:innen, die sich erst bewähren müssen. Zeitgleich mit den Steinen entsteht mit dem «Klassenkampf» eine weitere neue autonome Gruppierung, in der Rolf Thut eine zentrale Rolle einnimmt. Die beiden Gruppen arbeiten bei Aktionen zu manchen Themen zusammen. Während die Steine mit ihrem Auftreten auch innerhalb der Linken anecken, sind die Leute vom «Klassenkampf» eher Intellektuelle, die sich mit ihren Analysen und Argumenten an junge Beschäftigte und «Fremdarbeiter» richten, aber auch Quartierarbeit leisten.
«Politrocker» mit Black-Panther-Symbolik
Dem Zürcher Staatsschutz fällt der Name Rote Steine zum ersten Mal auf, als einige aus der neuen Gruppe im Januar 1972 an einem Teach-in der Bunkerjugend ein Flugblatt verteilen. Fortan wird in der Abteilung KKIII der Stadtpolizei auch über die Steine eifrig Material gesammelt. Ebenso werden die Medien auf sie aufmerksam. An der 1.-Mai-Demo 1972 in Zürich führen die Steine ein grosses Transparent mit sich, auf dem sie einen «Einheitslohn für alle Stiften» fordern. Nach der offiziellen Demonstration versammeln sich 300 Jugendliche an der «Riviera» beim Limmatquai zu «einer von der Gruppe Rote Steine organisierten Kundgebung», wie die NZZ rapportiert: «Gefordert wurde neben einem Lehrlingseinheitslohn von 800 Franken die Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen.»
Die Steine verteilen Flugblätter vor Schulen und organisieren Gratiskonzerte auf der Zürcher Allmend. Sie sind massgeblich an den Aktionen rund ums städtische Jugendhaus Drahtschmidli (heute: Dynamo) beteiligt, das nach einem Ton-Steine-Scherben-Konzert auf der Allmend im September 1972 für ein Wochenende besetzt wird. «Ich hatte ein 56er-BSA-Motorrad», erinnert sich Marco Rimoldi. «Hinter mir ein Heer von Mofas, so sind wir im ‹Drahtschmidli› eingefahren. Drinnen habe ich die Anlage angestellt und Country Joe McDonalds Woodstock-Song aufgelegt: ‹Gimme an F, gimme a U, gimme a C, gimme a K. What’s that spell? Fuck, fuck, fuck.›» An den folgenden Gratisfesten und Vollversammlungen nehmen jeweils Hunderte Jugendliche teil, sie fordern ein AJZ im Jugendhaus. Als das «Drahtschmidli» im Dezember erneut besetzt wird, verhaftet die Polizei über 200 Personen.
Ebenfalls im September 1972 sind die Roten Steine in Basel an der Besetzung der Häuser Spalenring 121–125 beteiligt. Bei der Räumung werden auch einige ihrer Mitglieder festgenommen. Ein zerknittertes Foto zeigt sie lachend im Polizeiwagen, alle mit einer schwarzen Faust als Emblem auf den Ärmeln ihrer Jacken. Die Steine hätten sich von Verhaftungen nie einschüchtern lassen, sagen Zeitzeug:innen. «Wir hatten alle diesen Badge», erzählt Dany, «das Symbol der Black Panthers.» Die Roten Steine kleiden sich gerne ähnlich wie diese, und sie tragen Lederjacken, was ihnen die Bezeichnung «Politrocker» einbringt.
Der Fokus auf junge Arbeiter:innen, Lernende und Schüler:innen sowie die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum zeigen sich auch in den Artikeln der Zeitschrift «Zündschnur», die im April 1973 erscheint. Es ist die erste Zeitung der Roten Steine und die einzige Ausgabe unter diesem Namen. «Die Roten Steine sind eine Lehrlings- und Jugendarbeitergruppe», heisst es dort. «Wir sind Kommunisten – wir setzen den Interessen und Privilegien der reichen Unterdrücker den Machtanspruch der Proleten entgegen und schliessen im Kampf um unsere Interessen auch die Gewalt nicht aus.»
Weiter wird über die Ausschreitungen an der Demo gegen italienische Faschisten am 17. März in Bern berichtet und über die Gründung einer «Roten Hilfe» in Zürich, einer «autonomen Zelle der Roten Steine», die all diejenigen unterstützen will, «die auf Grund ihrer klassenkämpferischen Haltung von den Staatsorganen verfolgt und eingekerkert werden». Darunter steht: «Jeder Gefangene ist ein politischer Gefangener – Ermordet: Petra Schelm 16.7.71, Georg von Rauch 4.12.71, Thomas Weissbecker 2.3.72» Es sind die ersten Toten der bewaffneten linksradikalen Bewegungen in Deutschland Anfang der siebziger Jahre.
Nach Georg von Rauch ist ein 1971 besetztes Haus in Berlin-Kreuzberg benannt. Die «Zündschnur» stellt es in einem Artikel vor: «Dank ihrer Kampfbereitschaft und festen Willen, das Haus zu behalten, mit allen Mitteln zu verteidigen, wenn nötig mit Gewalt zu entgegnen, konnten sie das Rauch-Haus für die ersten paar Wochen behalten.» Westberlin wird auch in der Schweiz zu einem wichtigen Orientierungspunkt der autonomen Linken.
Die Seite «Frauen, Mädchen rebelliert!» widmet sich der «Roten Zora», der Frauengruppe der Steine (vgl. «Die Kämpfe der Frauen»). Deren Gründung war im Januar an einer Vollversammlung der autonomen Jugend bekannt gegeben worden – lange bevor in Deutschland eine Gruppe mit demselben Namen als Teil der linksradikalen Revolutionären Zellen in Erscheinung treten wird. In ihrem Manifest fordert die Rote Zora: «Die Männer sollen gleich viel Hausarbeit machen wie wir!», «Pflegestätten für Babys, vom Staat bezahlt, aber von uns Frauen geführt» und «Staatlich bezahlte autonome Kindergärten».
In der «Zündschnur» wird auch auf ein weiteres Konzert von Ton Steine Scherben hingewiesen, das die Roten Steine im April 1973 im Zürcher Volkshaus organisieren. Mit im Saal ist der Staatsschutz, der ihm bekannte Besucher:innen notiert und vom Konzert rapportiert: «Weil eine Bestuhlung des Saales verboten worden war (aus Sicherheitsgründen), lagen, sitzten oder standen die Zuhörer.» Die «unseren Ermessens aufwieglerische Band» sei erst um Mitternacht aufgetreten. «Den rockenden Agitatoren gelang es mit den altbewährten Songs ‹Macht kaputt, was euch kaputt macht›, ‹Sklavenhändlerlied›, ‹Das gewaltsam besetzte Haus in Kreuzberg (Berlin)› die Anwesenden in ‹Stimmung› zu bringen.»
Im Volkshaus rufen die Steine zum Besuch ihrer wöchentlichen Treffen an der Hottingerstrasse 9 auf. Die «H9» ist nach Auflösung der Kommune in Hegnau das Zentrum der Steine geworden, einige von ihnen wohnen dort auch. Ein Mitbewohner, der 2012 verstorbene Künstler David Weiss, erinnert sich später: «An der ‹H9› herrschte ein Kommen und Gehen von Freaks, Hippies und selbsternannten Revolutionären, freiwilligen und unfreiwilligen Randständigen.» Vor allem das Zusammenleben «mit den Politrockern der Roten Steine um Guy Barrier» sei «nicht gerade angenehm» gewesen. Eine Einschätzung, die auch von anderen aus der damaligen «Scene» zu hören ist. «Das hatte sicher mit der Persönlichkeit von Guy zu tun», sagt Rimoldi. «Aber auch, weil wir eindeutig Lust hatten auf Lumpenproleten, Action, Militanz, Drogen und so.»
An der Seefeldstrasse eröffnen die Roten Steine im selben Jahr ein Ladenlokal und verkaufen Secondhandjeans unter dem Motto: «Unser Hosenladen ist immer offen.» Die Männer arbeiten meist als Akkordgruppe im Gerüstbau – Einsätze, die Marco Rimoldi organisiert und die die Haupteinnahmequelle für ihre Kommunen bilden. Sie wollen sich nicht wie andere Linke zu dieser Zeit «proletarisieren» und in Industriebetrieben arbeiten, um dort zu agitieren. Zwar stehen auch sie immer wieder vor den Eingängen der Gewerbeschulen und vor Fabriktoren und verteilen Flugblätter an die Lehrlinge und jungen Beschäftigten. Allerdings gelingt es ihnen nie, über längere Zeit eine funktionierende Lehrlingsgruppe aufzubauen.
Auch die Bewegung für ein autonomes Jugendzentrum im «Drahtschmidli» versandet. Über die Versammlung eines Verteidigungskomitees für die bei Aktionen Verhafteten notiert ein Beamter des Staatsschutzes: «Zum Thema ‹Drahtschmidli› wurde erklärt, dass es jetzt keinen Zweck mehr habe dort weiterhin ‹einzufahren›, weil der überwiegende Teil der dort verkehrenden Jugendlichen ganz offensichtlich nicht mitmachen wolle. Es gelte nun in Sachen ‹autonomes Jugendzentrum› eine neue Taktik auszuarbeiten und auszuführen.»
Die Hegibach-Besetzung
Im Zürcher Quartier Hirslanden findet sich für die Steine schon bald eine neue Gelegenheit, in Aktion zu treten. 1971 hatte die Gemeinnützige Gesellschaft Neumünster zwei ehemalige Altersheimliegenschaften an der Forchstrasse 91/93 beim Hegibachplatz an die Immobilienfirma Mobag verkauft. Am 29. August 1973 werden die leer stehenden Häuser durch ein Quartierkomitee, das von «Klassenkampf»-Mitgliedern mitinitiiert wird, besetzt. Daraus wird die bis dahin längste Hausbesetzung Zürichs.
«Die Liegenschaft hatte achtzig Zimmer», erinnert sich Marco Rimoldi. «Die Besetzer:innen suchten Leute, die dieses grosse Haus mit Leben füllen konnten. Viele von uns haben dann Zimmer bezogen. Wir bekamen als Rote Steine den ganzen ersten Stock zugesprochen. Zusammen mit den Leuten vom ‹Klassenkampf› haben wir eine Volksküche eingerichtet, wo wir abends kochen und essen konnten. Und wir haben in einem Saal eine Disco installiert, in der am Wochenende viele Leute tanzten. Manchmal haben wir zwischendurch die Musik leiser gedreht und über den Staat und den Teufel erzählt.»

Die Hegibach-Besetzung war laut Rimoldi eine Art Weiterführung der Bunker- und Kommunenidee: «Das war die beste Zeit als Gruppe. Wir haben alle zusammengewohnt. Wir konnten dort tolle Sachen machen. Das stiess auf Anklang, viele kamen. Wir haben Versammlungen, Themenabende oder Diskussionsrunden organisiert.»
An der Besetzung und ihrer Unterstützung beteiligen sich auch andere Gruppen. Die Roten Steine treten aber sehr dominant auf, was hin und wieder zu Reibereien führt, erinnert sich ein ehemaliges Mitglied des «Klassenkampfs». Die Häuser werden instandgesetzt, ein Kinderspielplatz und ein Garten werden eingerichtet, eine Beiz unter dem Namen «s’Bsetzerstübli» und ein Beratungszentrum für Mieter:innen eröffnet. Im Quartier werden 1300 Unterschriften für die Unterstützung und den Erhalt der Häuser gesammelt, mehrere Kundgebungen und Demonstrationen finden statt. Zwischenzeitlich handelt die Stadt Zürich dann mit der Mobag einen Gebrauchsleihvertrag aus, um die Liegenschaften als «Tourismusunterkünfte» zu nutzen. Als die Stadt vom Vertrag zurücktritt, verlangt das Immobilienunternehmen nach fast einem Jahr Besetzung, dass das Haus geräumt wird.

Die Stadtpolizei Zürich plant die Räumung unter dem Codenamen «Aktion Julius». Wie schon zu Zeiten des Bunkers und des «Drahtschmidli» setzt die Einsatzleitung auf die Brechstangenmethode und fährt mit grossem Aufgebot vor. Dennoch: Ein Teil der Besetzer:innen entscheidet sich, die Häuser nicht zu verlassen. Es kommt zum Showdown. Am frühen Morgen des 25. Juli 1974 beginnt die Aktion. «Als um 05.17 Uhr die Besatzer keine Anstalten trafen das Haus zu verlassen, wurde von der Forchstrasse her durch die BRP [Bereitschaftspolizei, Anm. d. R.] ein Scheinangriff unternommen, während von hinten der Pionierzug vorrückte. Mit angeschlossenen Wasserschläuchen (Bürgibrause) wurden die Besatzer auf dem Dach in Schach gehalten», lässt sich in den Polizeiprotokollen nachlesen.
Während sich rund um die Häuser Unterstützer:innen versammeln, steht Marco Rimoldi auf dem Dach. «Wir hatten jede Menge Schmierseife, die wir über dieses schräge Dach leerten. Auch Farben, die wir auf die Polizisten schütteten. Und Latten, mit denen wir sie zurückstiessen. Als sie schliesslich oben waren, wussten wir, jetzt müssen wir alle Vermummungen ablegen, anhand derer wir hätten identifiziert werden können.»
Verhaftet werden bei der Hegibach-Besetzung 6 Frauen und 22 Männer, darunter auch Pius Frey. Er sagt: «Ich war vorher nicht oft im Hegibach. Ich bin zu dieser Zeit viel rumgereist. Für die Räumung bin ich dann mit einer St. Galler Kollegin gezielt hin.» Aber die Räumung und der darauf folgende Prozess bringen ihn den Roten Steinen näher. 23 Angeklagte erhalten im Herbst 1975 Haft- und Gefängnisstrafen. Marco Rimoldi erhält als «Hauptanführer» eine Strafe von hundert Tagen unbedingt.
Die Polizeioperation «Montevino»
Wenige Tage nach der Räumung erfolgt in Zürich ein Brandanschlag auf die Räumlichkeiten der Mobag, der einen Sachschaden von 500 000 Franken anrichtet und bis heute unaufgeklärt bleibt. Der Anschlag rückt die autonomen Gruppen in den Fokus einer weiteren Polizeioperation: der «Aktion Montevino». Telefone der Roten Steine werden ebenso abgehört wie diejenigen von «Klassenkampf»-Leuten an der Wiesenstrasse im Seefeld oder der linken Buchhandlung Eco-Libro im Kreis 4. Der Betreiber des Buchladens, der Tessiner Autonome Georgio Bellini, wird von Staatsschutzbeamten über Wochen beschattet.
«Montevino» untersucht eine Serie von Waffen-, Munitions- und Sprengstoffdiebstählen zum Teil aus Armeedepots, die 1971 begonnen hat, sowie diverse Anschläge in der Schweiz. Im Frühling 1975 werden drei junge Zürcher und die Deutsche Petra Krause verhaftet. Sie werden für die Aktionen verantwortlich gemacht und zu langen Haftstrafen verurteilt.
Per Haftbefehl gesucht wird von der Zürcher Staatsanwaltschaft dann auch René Keller. Er ist abgetaucht, nachdem gegen ihn wegen Urkundenfälschung und Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie das Strassenverkehrsgesetz ermittelt wird. Ihm droht eine achtmonatige Gefängnisstrafe. Nachdem er von einer Asienreise zurückgekehrt ist, wird er von den Steinen in einem Ferienhaus in Roncola nahe Bergamo untergebracht. Dort wird er im Juli 1975 verhaftet.
In italienischen Gefängnissen wartet er monatelang auf seine Auslieferung in die Schweiz. Am 16. Januar 1976 wird er tot in seiner Zelle in Parma aufgefunden (vgl. «Tod in Parma»). Offizielles Untersuchungsergebnis: Suizid. Doch für die Roten Steine ist klar: «René wurde ermordet.» Er wird für sie zum Märtyrer. In Zürich werden Plakate geklebt, die ihn und Werner Sauber zeigen. Das Schweizer Mitglied der linksradikalen «Bewegung 2. Juni» stirbt am 9. Mai 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Köln. Über den beiden Porträts steht: «Der revolutionäre Kampf gab ihrem Leben seinen Sinn – Wir führen ihn weiter.»
