Von oben herab: Last Man Standing

Nr. 5 –

Stefan Gärtner über den Kolumnismus in pandemischen Zeiten

Am heiligen Sonntag soll man eigentlich nicht arbeiten, und Kolumnengeschäfte lassen sich auch prima werktags erledigen. Doch plötzlich kribbelt es in der Nase, werden die Knie weich und die Hände kalt, und früher hätte das geheissen: Schnupfen, heute kann das heissen: Corona, zumal dann, wenn bereits drei Viertel der Familie infiziert sind und ich der Letzte war, der so negativ durch die Tage ging, wie es meiner negativen Haltung nun einmal entspricht.

Der letzte Schnelltest ist aufgebraucht, und der Sonntagstermin im Testzentrum ist erst um 20.30 Uhr. Jetzt ist es sieben, und meine Frau, die es vor einer Woche erwischt hat, sagt, gut, fährst du gleich, mir ist es ja ganz schnell ganz schlecht gegangen. Ich erinnere mich und erinnere mich weiter, wie ich vor Jahren mal eine WOZ-Kolumne mit 39,2 Grad Fieber schrieb, und eigentlich habe ich keine Angst vor Corona; eigentlich habe ich bloss Angst, meine Kolumne nicht schreiben zu können. Die Konkurrenz schläft nämlich nicht, und «Freund» Ruedi wartet nur darauf, dass ich ausfalle und er sich als wöchentlicher Lieferant empfehlen kann! Und wer ernährt dann meine Kinder? Meine Frau vielleicht? Selbstverständlich, mit ihrem Bombenjob im öffentlichen Dienst, das kostet sie bloss eins ihrer zauberhaften Lächeln; aber dass ich kein Geld mehr hätte, um im Internet Quatsch zu kaufen – eine grässliche Vorstellung!

Nein, ich muss liefern, bei Regen, Schnee, Sonnenschein, egal ob schlecht geschlafen, Schlaganfall oder keine Lust. Ein Kolumnist ist wie eine Maschine, und neulich, beim Herumzappen – eine Kulturtechnik, die man sich durchs Serienwesen nicht madig machen lassen soll –, geriet ich in den Spitzenfilm «Over the Top», in dem Sylvester Stallone einen Trucker spielt, der seinen vom reichen Arschlochschwiegervater verzogenen Sohn damit beeindruckt, dass er die Weltmeisterschaft im Armdrücken(!) gewinnt. Und Stallone verrät sein Erfolgsgeheimnis: Wenn er seine Truckerkappe mit dem Schirm nach hinten dreht, dann geht die Maschine an. Wenn ich mich an den Schreibtisch setze, dann geht genauso die Maschine an, auch wenn ich nur eine Ballonmütze aus Tweed besitze, die ich am Schreibtisch natürlich nicht aufhabe, ich bin ja nicht bekloppt. Muss ich aber für Montag einen Maschinenschaden fürchten, muss die Maschine eben am Sonntag laufen, denn Hauptsache, die Kolumne wird fertig, und wenn der Preis ist, dass der Älteste mit der Mama die Beatles-Dokumentation, die mich gar nicht interessiert, alleine sehen muss, dann ist das eben der Preis.

Beim Zappen gestern übrigens in eine Doku über James Last geraten, den Erfinder des sogenannten «Happy Sound». James Last, der legendäre Bandleader und Arrangeur, hat rund 10 000 Alben veröffentlicht und starb 2015 nach seiner letzten Tour, mit 86. Meine Frau ist jünger als ich und verstand das Phänomen Last keine Sekunde («Fahrstuhlmusik»), während mir sogleich auffiel, dass Lasts unvergängliche, alles je Populäre aufsaugende Weisen zur Klangtapete meiner Kindheit gehören. Und wenn im Jahr 2083, nach wer weiss wie vielen dialektisch-konjunkturellen Schleifen, das lineare Glotzen wieder in Mode ist und im SRF ein Film über mich läuft, dann sagt ein Ehemann: «Versteh ich keine Sekunde, das ist doch Mist!» Und seiner Frau fällt aber auf, dass der Mist von einem Vollprofi stammt, der bis ins hohe Alter und ohne jeden Zynismus ein Schweizer Millionenpublikum begeistert hat, dem er die Komplikationen des politisch-kulturellen Alltags in schmackhaften Häppchen servierte.

Und jetzt fahr ich zum Test und werde finden, dass mich auch diese Krise tadellos weitergebracht hat: Denn diese Verwandtschaft wäre mir ohne Corona nie im Leben aufgefallen.

Nachschrift: Sonntag, 20.53 Uhr, ist unser Autor coronanegativ. Es geht ihm den Umständen entsprechend.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop/buecher.