Gaza: «Sie wollen uns ins Nichts schicken»
Die israelische Armee stellt die Einwohner:innen von Gaza-Stadt vor eine brutale Wahl: Fliehen ins Ungewisse oder sich der Gefahr der drohenden Offensive aussetzen.

In Gaza-Stadt herrschen vor Beginn der angedrohten Militäroffensive Anspannung und Angst unter der rund einen Million Einwohner:innen. Bis Freitag wird eine Entscheidung Israels erwartet – über eine letzte diplomatische Anstrengung Ägyptens und Katars, den Angriff noch abzuwenden. Israels Militärbehörde Cogat kündigte an, Zelte und Hilfsgüter für die Evakuierung der Bevölkerung in den Süden des Gazastreifens zu bringen. Anwohner:innen berichten von heftigen Bombenangriffen und Vorstössen von Militärfahrzeugen in Vororte der Stadt.
Rauchschwaden vor der Kirche
Gabriel Romanelli, der katholische Pfarrer in Gaza-Stadt, veröffentlichte am Dienstag Aufnahmen von Rauchschwaden nach Luftangriffen im Umfeld der Kirche. In der Nähe der Pfarrei soll es immer häufiger Kämpfe geben. Dort haben die meisten der wenigen Hundert Christ:innen in Gaza seit Kriegsbeginn Zuflucht gesucht. Binnen 24 Stunden wurden am Dienstag laut dem von der Hamas geleiteten Gesundheitsministerium im Küstenstreifen sechzig Menschen bei israelischen Angriffen getötet, drei starben an Unterernährung.
Ein Teil der oft bereits mehrfach vertriebenen Bevölkerung lebt derzeit in den wenigen noch nicht vollständig zerstörten Vierteln im Zentrum von Gaza-Stadt. Viele andere haben Zelte und Verschläge errichtet, die Lager erstrecken sich bis an den Strand und den kleinen Hafen der Stadt. «Wir sind schon jetzt vom Mangel an Wasser und Lebensmitteln psychisch und physisch ausgelaugt», sagte der 85-jährige Akram Schlabia aus dem Viertel Schudschaija gegenüber dem britischen «Guardian». «Nun wollen sie uns in den Süden schicken, ins Nichts, an einen Ort ohne Unterkünfte oder die wichtigsten Lebensgrundlagen.»
Manche haben sich bereits auf den Weg in den Süden gemacht, andere ziehen die Gefahr, in Gaza-Stadt zu bleiben, der Ungewissheit einer Flucht vor. Bisher ist vollkommen unklar, wo so viele Menschen im Süden versorgt werden sollen, zumal die israelische Armee laut Regierungschef Benjamin Netanjahu auch die Gebiete um Deir al-Balah und al-Mawasi im Zentrum einnehmen will. Laut einem Bericht der «New York Times» treibt Israel derweil Gespräche über die massenhafte Vertreibung von Palästinenser:innen aus Gaza in andere Länder und konkret in den Südsudan voran.
Expert:innen wie Volker Türk, Menschenrechtskommissar der Uno, bezeichnen die Vertreibungen als ethnische Säuberung und Kriegsverbrechen. Netanjahus Plänen zur Eroberung von Gaza-Stadt schlägt international und in Israel zunehmend Widerstand entgegen. Am Sonntag nahmen nach Angaben des Forums der Angehörigen der Geiseln rund eine Million Menschen in Israel an einem Generalstreik für die Rückkehr der Geiseln und ein Ende des Krieges teil. Für kommende Woche rufen sie erneut zum Streik auf.
Suizide unter Soldat:innen
In Gaza sei «militärisch und strategisch seit Mai 2024 nichts mehr zu erreichen», sagt der ehemalige General Israel Ziv gegenüber der WOZ; neunzehn weitere Exgeneräle und Chefs der Sicherheitsbehörden teilten jüngst seine Einschätzung. Die Hamas sei geschwächt, habe sich aber längst in eine Guerillatruppe verwandelt, der militärisch nicht beizukommen sei. Der Kampf um Gaza-Stadt würde Zivs Einschätzung nach rund 20 000 Soldat:innen benötigen, die Armee aber sei erschöpft. Die Zahl der Reservist:innen, die sich auf Einberufungen zurückmelden, sinkt stetig. Zuletzt gab es vermehrt Berichte über Suizide unter Soldat:innen nach Einsätzen in Gaza. «Es braucht politische Lösungen», sagt Ziv und nennt den Vorschlag für eine temporäre Waffenruhe eine positive Entwicklung.
Die Hamas hatte am Montag erklärt, einem diplomatischen Vorstoss der Vermittler Ägypten und Katar zuzustimmen. Der Plan sieht eine sechzigtägige Waffenruhe vor, während derer zehn der rund zwanzig noch lebenden Geiseln und 200 palästinensische Sicherheitsgefangene freigelassen werden. Damit macht die radikalislamische Gruppierung deutliche Zugeständnisse. Der Vorschlag soll laut Katar «fast identisch» mit demjenigen von US-Unterhändler Steve Witkoff sein.
Netanjahu könnte dennoch ablehnen. International steht trotz zunehmender Isolation Israels sein wichtigster Verbündeter hinter ihm: US-Präsident Donald Trump. Innenpolitisch könnte der Druck seiner rechtsextremen Koalitionspartner, die die dauerhafte Besetzung und Annexion Gazas fordern, schwerer wiegen als die Proteste. Der Regierungschef, gegen den mehrere Korruptionsverfahren laufen, ist politisch von ihnen abhängig. Seine Koalition würde bei Neuwahlen laut Umfragen keine Mehrheit mehr erreichen.