Jimmy Carter (1924–2024): Sonntagsschule als Staatsprinzip
Der erste Politiker von Rang, der 1976 die vermeintlich chancenlose Präsidentschaftskandidatur von Jimmy Carter offiziell unterstützte, war ein junger US-Senator namens Joe Biden. Die beiden Männer blieben sich freundschaftlich verbunden, obwohl sie ihren Dienst im Staat kaum unterschiedlicher hätten interpretieren können. Auf der einen Seite agierte der Vollblutpolitiker Biden, ein unermüdlicher Causeur, der überzeugt und überredet und Koalitionen zu bilden versucht. Auf der anderen Seite Jimmy Carter, über den sein Vizepräsident Walter Mondale sagte: «Er dachte, Politik sei irgendwie sündhaft.» Politische Opportunität sei für Carter nie ein akzeptables Argument gewesen.
«Ich bin Bauer, Ingenieur, Geschäftsmann, Planer, Wissenschaftler, Gouverneur und ein Christ», so kündigte der demokratische Präsidentschaftsanwärter Jimmy Carter Mitte der siebziger Jahre seine Wahlkampagne an. Und die Mehrheit der Stimmenden war nach dem polarisierenden Vietnamkrieg, nach der korrupten Präsidentschaft des Republikaners Richard Nixon und dem Watergate-Skandal für einen moralisch integren Staatschef bereit. Einen, der nicht zum urbanen politischen Establishment der Ost- oder Westküste gehört, sondern aus dem «heartland» kommt, wo noch traditionelle Werte vorherrschen. Zu diesen Werten im Südstaat Georgia gehörte in Carters Kindheit aber auch die «Segregation», die US-amerikanische Variante der Apartheid. In der eigenen Familie trat der Vater für strikte Rassentrennung ein, die Mutter hingegen lehrte ihre Kinder die Gleichberechtigung aller Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts. Wahrscheinlich bot die Bibel mit Jesus als übergeordneter Autorität Jimmy Carter von klein auf eine willkommene Entlastung von moralischer Ambivalenz.
Im permanenten familiären Spannungszustand lernte er auch, sich zu ducken – und sich durchzusetzen. Das zeigte sich etwa bei seinen ersten politischen Schritten in Georgia. Als Gouverneurskandidat äusserte sich Carter kaum zur im Süden sehr aktiven Bürgerrechtsbewegung, um die weisse Bevölkerung nicht zu verärgern. Als frisch gewählter Gouverneur verkündete er hingegen zur allgemeinen Überraschung kategorisch: «Die Zeit der Rassentrennung ist vorbei.»
Zum US-Präsidenten gewählt wurde Jimmy Carter 1976 mit Unterstützung der Schwarzen Wähler:innen, die es schätzten, dass sich ein Weisser aus dem Süden für die Gleichberechtigung aussprach und auch, dass er sich dabei – wie der Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King – auf seinen Glauben berief. Ein wichtiger Stimmenblock waren damals ausserdem die weissen Evangelikalen, die erst der «wiedergeborene» Jimmy Carter mit seinem entschieden christlichen Engagement aus einem langen politischen Winterschlaf erweckt hatte.
Bei der Wiederwahlkampagne vier Jahre später konnte Carter immer noch auf die Unterstützung der Afroamerikaner:innen zählen. Die weissen Evangelikalen jedoch hatten sich längst von Carters radikaler Jesusbotschaft abgewandt. Denn der Präsident behauptete mit Berufung auf die Bibel, im öffentlichen Raum bedeute Nächstenliebe nichts anderes als Gleichstellung und Gerechtigkeit. Diese Art linkes Christentum vertrug sich nicht mit ihren politisch rechtskonservativen Werten. Ihr neuer Held war Ronald Reagan mit seinem Evangelium «light», der allen Arten von Kuhhandel nicht abgeneigt war.
Jimmy Carters Wahlniederlage 1980 war aber auch eine Niederlage der progressiven weissen Evangelikalen. Diese hatten im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA eine wichtige gesellschaftspolitische Rolle gespielt, etwa bei der Abschaffung der Sklaverei, bei der Gefängnisreform, in der Friedensbewegung oder beim Kampf der Frauen für Gleichberechtigung. Heute sind weisse evangelikale Christ:innen mehrheitlich rechtskonservativ, nationalistisch, rassistisch und frauenfeindlich. Donald Trump konnte sich als Präsidentschaftskandidat stets auf diesen Stimmenblock verlassen.
Seit sich Jimmy Carter im Februar 2023 in häusliche Palliativpflege begab, erschienen in den USA immer wieder vorzeitige Nachrufe. Sie zogen eine gemischte Bilanz aus seinen politischen Erfolgen und Misserfolgen. Gerühmt wird sein Einsatz für Menschenrechte und die Umwelt, das Camp-David-Abkommen zwischen Israel und Ägypten 1979 sowie der Vertrag, der Panama ab 2000 die Souveränität über den Kanal zugestand. Hochgelobt auch sein jahrzehntelanges Engagement für die gemeinnützige Organisation Habitat for Humanity, sein Kampf für die Ausrottung von weitverbreiteten Krankheiten in Afrika und sein Interesse an der Überwachung demokratischer Wahlen. Eher negativ bewertet wird seine politische Ineffizienz als Präsident angesichts von Inflation und Arbeitslosigkeit und von aussenpolitischen Krisen wie dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und – wohl wahlentscheidend – der Geiselnahme von 52 US-Diplomat:innen in Teheran, die erst nach Carters Abwahl freigelassen wurden.
Jimmy Carter selber hat sich bescheiden genug als Schüler und Diener von Jesus verstanden, als Mensch mit Stärken und Schwächen. Es sind die US-amerikanischen Wähler:innen, die nicht nur bei ihm, sondern quasi bei jeder Präsidentschaftswahl erneut auf einen Messias hoffen, der ihnen ein für alle Mal das Heil bringt.