Stacey Abrams: Das Wagnis, mehr zu wollen
Stacey Abrams, Afroamerikanerin aus ärmlichen Verhältnissen, ist heute Millionärin, Bestsellerautorin und prominente Bürgerrechtlerin. Bei den Wahlen in Georgia will sie im November als erste Schwarze Frau Gouverneurin eines US-Bundesstaats werden.
Wollt ihr die Schwarze Feministin oder den weissen Macho? Bejaht ihr die zunehmend multiethnische Demokratie, oder verteidigt ihr die Fortsetzung der weissen Vorherrschaft? So grundsätzlich müssen die Stimmbürger:innen des US-Bundesstaats Georgia bei den Gouverneurswahlen 2022 entscheiden. Und das schon zum zweiten Mal. 2018 hatte die demokratische Kandidatin Stacey Abrams die Wahl gegen den Republikaner Brian Kemp knapp verloren. Das Resultat des Urnengangs wird auch diesmal knapp sein.
Vor vier Jahren hatte Stacey Abrams zunächst gezögert, ihre Niederlage zu akzeptieren. Denn der Wahlsieger Kemp hatte damals als sogenannter Secretary of State seine eigene Wahl beaufsichtigt und Zehntausende von Wahlwilligen mit bürokratischen Schikanen an der Stimmabgabe gehindert. Doch Stacey Abrams beschloss, die undemokratischen Machenschaften mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen und mehr Wahlberechtigte, vor allem mehr People of Color, für die politische Teilhabe zu gewinnen.
Abrams stellt klar, dass ein gerechteres Amerika nicht ohne Kämpfe zu haben ist.
Nur dank der massenhaften Registrierung von neuen Wähler:innen konnte der heutige US-Präsident Joe Biden im konservativen Südstaat Georgia die Präsidentschaftswahl 2020 gegen Donald Trump gewinnen. Doch auch dieses Resultat war knapp. Und die republikanische Seite reagierte bekanntlich auf die unerwartete Niederlage mit ganz und gar undemokratischen Mitteln. Zurzeit wird strafrechtlich ermittelt, ob Trumps damalige Aufforderung zum Wahlbetrug in Georgia eine kriminelle Tat darstellt. Unter anderem wird auch Brian Kemp, der amtierende Gouverneur des Südstaats, nach den Wahlen 2022 vor Gericht in dieser Sache aussagen müssen.
Demografie als Chance
Es gibt nicht nur ideologische, sondern auch handfeste wahlarithmetische Gründe dafür, dass Demokrat:innen wie Stacey Abrams den Kreis der Wählenden erweitern und der zunehmend multiethnischen Gesellschaft anpassen wollen, während die Rechte die Stimmabgabe – wo immer möglich – auf die weisse Kernwähler:innenschaft beschränkt. Denn seit mindestens fünfzig Jahren unterstützen etwa neunzig Prozent aller Afroamerikaner:innen jeweils die demokratischen Kandidat:innen. Auch Amerikaner:innen asiatischer und lateinamerikanischer Herkunft stimmen vornehmlich demokratisch. Die Mehrheit der weissen Stimmbürger:innen hingegen wählt republikanisch. In Georgia werden die ethnischen Minderheiten zusammengenommen bald die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Wird der Südstaat also automatisch progressiv?
«Demografie ist nicht Schicksal, sondern Chance», warnt Stacey Abrams in ihrem neusten Manifest mit dem selbstbewussten Titel «Our Time Is Now» («Unsere Zeit ist gekommen»). Und sie stellt schon im Untertitel klar, dass ein gerechteres Amerika auch heute nicht ohne harte Kämpfe zu haben ist.
Damals, während der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, wurde nebst vielen anderen auch Stacey Abrams’ Grossmutter von der Polizei überwacht, bedroht und verhört. Erst 1968, drei Jahre nach der Verabschiedung des Wahlrechtsgesetzes, das rassistische Diskriminierung an der Urne verbot, konnte sie zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Doch am Wahltag sass sie im abgedunkelten Schlafzimmer und rührte sich nicht vom Fleck. Sie sagte: «Ich habe Angst. Ich fürchte mich vor den Hunden und der Polizei. Ich will nicht wählen gehen.» Die wütende Ermahnung ihres Mannes, an die Zukunft der Kinder und Kindeskinder zu denken, hätten ihr schliesslich den Mut zum Urnengang gegeben. Zum Schritt in eine Öffentlichkeit, die sie immer noch als feindselig und gefährlich empfand.
Abrams erzählt in ihrem Buch auch von einer jungen Freundin, die bei der Gouverneurswahl von 2018 für sie gestimmt hatte, die aber mittlerweile durch das Mobbing, dem Schwarze Stimmbürger:innen in Georgia und anderswo ausgesetzt sind, so zermürbt ist, dass sie aufs Wählen ganz verzichtet. Abrams schreibt dazu: «Indem sie das Vertrauen ins System untergraben, haben die heutigen Despoten die blutrünstigen Hunde und die mit Gummiknüppeln bewaffnete Polizei von damals ganz einfach ausgetauscht gegen restriktive Identifizierungsvorschriften für Wähler:innen und undurchschaubare Regeln für die Teilnahme am politischen Prozess.»
Zur Zeit der Polizeihunde und der Gummiknüppel hatte Martin Luther King sein politisches Hauptquartier in Georgia. In der Hauptstadt Atlanta wurde er 1929 geboren und nach seiner Ermordung im April 1964 beigesetzt. Als prominente Bürgerrechtskämpferin des 21. Jahrhunderts tritt Stacey Abrams also ein gewichtiges Erbe an. Doch der immer dreistere Rassismus nicht nur im Süden der USA bestärkt sie in ihrem Kampf für eine «neue amerikanische Mehrheit», eine Koalition aus jungen, weltoffenen Menschen, ethnischen Minderheiten, Migrant:innen, LGBTQ-Aktivist:innen, Linksliberalen und Feminist:innen.
Nach dem sexistischen Antiabtreibungsentscheid des erzkonservativ dominierten Obersten Gerichts im Juni ist die Mobilisierung von Frauen zurzeit besonders wichtig – und besonders erfolgreich. Gerade auch im US-Bundesstaat Georgia, wo dank der Unterschrift von Gouverneur Kemp seit dem Juli alle Abtreibungen ab der sechsten Woche verboten sind. Auch gegen diese Unterdrückung kämpft Stacey Abrams an. Beim Thema reproduktive Selbstbestimmung ist die Gouverneurskandidatin allerdings selbstkritisch und ehrlich genug, um zuzugeben, dass sie selber als Tochter von Kirchenleuten das Recht auf Abtreibung zunächst kategorisch abgelehnt hatte. Erst durch Gespräche mit Mitstudentinnen habe sie, eine Nachfahrin von versklavten Menschen, begriffen, wie wichtig und grundlegend das Recht am eigenen Körper sei.
Vom Liebesroman zum Bürgerrecht
Stacey Abrams’ Familiengeschichte ist auch ein Stück (Schwarze) Zeitgeschichte. Der Grossvater wurde sowohl im Zweiten Weltkrieg als auch in den fünfziger Jahren im Koreakrieg als Koch eingezogen. Und beide Male kehrte er nach dem Dienst fürs Vaterland in die Apartheidwelt des US-Südens zurück. Staceys Eltern, eine Schulbibliothekarin und ein Werftarbeiter, die sich später beide zu Predigenden weiterbildeten, lebten mit ihrer Grossfamilie meist an und zuweilen unter der Armutsgrenze. Doch auch wenn die Lebensmittel knapp wurden, glaubten sie fest daran, dass Bildung der wichtigste Grundstein für ein gutes Leben und für mehr Gleichberechtigung sei. Für fünf ihrer sechs Kinder trifft das auch zu. Sie sind heute Bundesrichterin, Biologin, Ethnologin, Sozialarbeiter. Und Stacey Abrams’ eigenes weitgefächertes Résumé listet: Anwältin, Autorin von Liebesromanen, Krimis, Kinderbüchern und politischen Manifesten, Geschäftsfrau, Aktionärin, Verwaltungsrätin, Politikerin und Bürgerrechtsaktivistin. Nur Walter, der jüngste Sohn der Familie, kämpft schon sein Leben lang mit psychischen Problemen und Drogenabhängigkeit und war schon mehrmals im Gefängnis – auch das eine Erfahrung, die überdurchschnittlich oft von Afroamerikaner:innen gemacht wird.
Jedes Foto, jede Wahlwerbung der strahlenden Stacey Abrams signalisiert hingegen: Diese Frau wagt es, mehr zu wollen. Sie kämpft nicht bloss um einen Platz am Tisch, sondern will am Kopfende des Tisches sitzen. Sie hat nicht vergessen, wie sie noch Anfang der achtziger Jahre mit ihrer Primarschulklasse zum Herrenhaus des ehemaligen Südstaatenpräsidenten Jefferson Davis gebracht wurde, um einen Mann zu bewundern, der für die Erhaltung der Sklaverei gekämpft und selber über hundert Sklav:innen gehalten hatte. Zehn Jahre später erhielt Stacey Abrams als Klassenbeste ihrer Highschool eine Einladung ins Haus des damaligen Gouverneurs. Doch auf der klassizistischen Terrasse wurden die Abrams zunächst abgewiesen, weil die Türsteher davon ausgingen, dass sich die Schwarze Familie in der Adresse geirrt hatte.
Stacey Abrams war früh politisch aktiv und 1992 mit dabei, als Studierende aus Protest gegen die brutale Behandlung Rodney Kings durch die Polizei in Los Angeles eine Südstaatenfahne, Symbol für Sklaverei und Rassismus, verbrannten. Diese «Schändung» wird Stacey Abrams von konservativer Seite bis heute vorgeworfen, obwohl sie sich bald von radikalen Protestformen abwandte und die Welt fortan als sozial verantwortliche Kleinunternehmerin, als pragmatische Politikerin und als charismatische Bürgerrechtsaktivistin zu verändern suchte. Ob im Parlament, auf der Strasse oder am Podium, stets setzte sich Abrams für einen guten Service public ein, der nicht nur, aber vor allem auch den gesellschaftlich benachteiligten Afroamerikaner:innen zugutekommt: ein besseres Gesundheitssystem, höhere Mindestlöhne, ausreichend finanzierte Volksschulen. Dazu, als Fundament, ein Stimmrecht für alle, das diesen Namen verdient.
Das Private ist politisch
«Stacey Abrams’ Bilanz ist nicht so progressiv, wie sie uns glauben macht», schreibt Branko Marcetic im sozialistischen US-Magazin «Jacobin». Diese Einschätzung erstaunt nicht, denn die linke Redaktion verteilt stets strenge ideologische Noten. Doch es stimmt, dass Stacey Abrams von 2007 bis 2017 zuerst als demokratische Abgeordnete und dann als Oppositionschefin im Repräsentantenhaus von Georgia so viele und weitgehende Kompromisse mit der republikanischen Mehrheit einging, dass sie zuweilen ihre eigene Fraktion verärgerte. Was noch mehr Fragen aufwirft, sind allerdings ihre unzähligen Verflechtungen mit der Privatwirtschaft. Als Start-up-Unternehmerin betätigte sie sich selber in so verschiedenen Branchen wie Babynahrung und Finanzdienstleistungen. Dazu ist sie heute Miteigentümerin von mehr als einem halben Dutzend weiterer Geschäfte, von der im pittoresken Georgia besonders aktiven Filmindustrie bis zu Beratungsfirmen. Die lokale Tageszeitung «The Atlanta Journal Constitution» präzisiert: Stacey Abrams investiere gerade auch in zukunftsträchtige Wirtschaftszweige wie erneuerbare Energien oder IT-Sicherheit. Also in Unternehmen, denen sie als Gouverneurin möglicherweise Aufträge zu vergeben hätte.
Die Entflechtung von Privatem und Politischem ist keine einfache Sache für eine Frau, die sich aus eigener Kraft aus der Armut zu einer Machtposition hochgearbeitet hat. Nicht zuletzt das überraschend gute Resultat bei den Gouverneurswahlen 2018 trug dazu bei, dass Stacey Abrams heute nicht mehr tief verschuldet ist, sondern als Millionärin kandidiert. Die nationale Bekanntheit hat sie sozusagen zum «Brand», zum Markenartikel, gemacht: Ihre Bücher verkaufen sich besser, ihre Redeaufträge bringen mehr ein. Und auch lukrative Verwaltungsratssitze und Aktienbündel werden häufiger angeboten. Diese Aufwärtsdynamik spielt natürlich nicht nur bei Stacey Abrams, sondern auch bei ihrem Rivalen Brian Kemp wie bei den meisten anderen etablierten Politiker:innen. Doch eine Aussenseiterin mit hohen moralischen Ansprüchen wird sehr viel genauer unter die Lupe genommen als die alteingesessene, vorwiegend weisse politische Klasse.
Stacey Abrams ist keine Schwarze Superfrau, doch ihre Wahl zur Gouverneurin für den US-Bundesstaat Georgia wäre richtungsweisend für die politische Zukunft des ganzen Landes.