Filmfestival Locarno: Dracula muss zum Zahnarzt

Nr. 33 –

Locarno platzt aus allen Nähten, doch das Festival will trotzdem weiterwachsen. Und im Wettbewerb zeigt sich: Nicht überall, wo Mais wächst, gibts Popcorn.

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Heiliger Sonntag im Kino, und dann steht da plötzlich dieses perverse Maisfeld mit lauter Penissen dort, wo Maiskolben wachsen sollten. Mit Dracula hatte das zwar endgültig nichts mehr zu tun, im neuen Film des Rumänen Radu Jude. Aber der letzte Anarcho des Gegenwartskinos ist sich bekanntlich für nichts zu schade in seinen aus- und abschweifungsfreudigen Filmen. Was will er jetzt mit seinem hochgradig selbstreferenziellen «Dracula», der in Locarno im Wettbewerb läuft?

Klar, das ist auch als kulturelle Rückaneignung angelegt. Radu Jude vergreift sich am grössten Exportschlager der rumänischen Kultur, um die ganze Draculafolklore nach Strich und Faden zu demontieren – zwischen exaltiertem Revuetheater und monströsem KI-Kitsch. Billig ist natürlich Programm bei Radu Jude: Seine Ideen verramscht er lieber im Affekt, statt sie so lange zu veredeln, bis sie sich im guten Geschmack von selbst erledigen. Vorletztes Jahr hat er in Locarno mit «Do Not Expect Too Much from the End of the World» (2023) den Spezialpreis der Jury gewonnen, das wird ihm diesmal nicht passieren. Sein «Dracula» klingt wild, ist aber in den 170 Minuten oft einfach nur: öde. Dracula mit Zahnweh bei Dr. Caligari? Haha. Als Webserie auf Youtube wäre das besser aufgehoben als auf der grossen Leinwand im Fevi.

Schmusende Schnecken

Es gab auch das Gegenteil im diesjährigen Wettbewerb, mit Filmen wie «White Snail» von Elsa Kremser und Levin Peter. Da sucht ein suizidales Model, dem das Leben in Belarus die Luft abschnürt, die Nähe zu einem sanften Leichenpräparator, der makabre Kunst malt. Wie sich allmählich eine platonische Liebe zwischen den beiden entwickelt, wie die Motive dabei sauber ineinandergreifen: Das alles wirkt so gewissenhaft formatiert, dass man letztlich vor allem eine tadellos erfüllte Arthouse-Schablone sieht, samt überdeutlicher Hartenschalenmetaphorik mit schmusenden Schnecken und einsamer Schildkröte.

Dreckiger geht es in «The Fin» zu und her, einer dystopischen Ökogroteske aus Korea, die hier in der Sektion «Cineasti del Presente» läuft, dem zweiten Wettbewerb. Mit industriellen Kulissen, einfachen digitalen Effekten und ganz wenig Bodyhorror entwirft Regisseur Syeyoung Park eine toxische Welt in monochromen Farben. Dass der Ozean einst blau war, ist hier nur noch eine ferne Erinnerung. In einer schmierigen Kneipe kann man dafür Fische aus einem Bottich mit künstlichem Wasser angeln, als nostalgische Ersatzhandlung.

Erst mit der Zeit erschliesst sich auch, wieso die Menschen in dieser Stadt alle so verschmutzte Gesichter haben: Die Regierung propagiert es in Zeiten der Wasserknappheit als patriotischen Akt, sich ungewaschen zu zeigen. Und diese dicke Betonmauer draussen vor der Stadt? Sie soll die Aussätzigen fernhalten, die wegen der verseuchten Gewässer mutiert sind. Deren angeblich notwendige Ausgrenzung ist natürlich nackte Biopolitik, um die gesellschaftliche Ordnung zu sichern.

«The Fin» ist bestes Genrekino: ungeschliffen und plakativ, nah an den ökologischen Ängsten unserer Gegenwart gebaut. Damit öffnete diese koreanische Dystopie auch den passenden Echoraum für die überhitzte Stadt und ihre einsamen Seelen im gleichentags gezeigten Schweizer Beitrag «Don’t Let the Sun» von Jacqueline Zünd.

Locarno selbst steht zwar noch nicht vor dem Kollaps, aber das grösste Filmfest der Schweiz stösst sichtlich an die Grenzen seines Wachstums – trotzdem hat CEO Raphaël Brunschwig schon letztes Jahr die Devise ausgegeben: weiterwachsen. Auch deshalb soll das Filmfestival in zwei Jahren, zu seiner 80. Ausgabe, in den Juli vorgezogen werden. Womöglich ungünstig für hiesige Stammgäste, weil es dann erst recht mitten in den Sommerferien liegt – aber vielleicht, so die Hoffnung der Festivalspitze, attraktiver für internationale Gäste. Ob man das wirklich nötig hat?

«Fragen Sie was anderes»

Mancherorts platzt Locarno ja bereits aus allen Nähten. Schön zu sehen beim Besuch der britischen Schauspielerin Emma Thompson, die am Freitagabend im Schneethriller «The Dead of Winter» die tropische Sommernacht abkühlte. Da war die Piazza Grande so früh schon so voll, dass mehrere Hundert weitere Gäste trotz ihrer Tickets das Nachsehen hatten – und viele entsprechend laut ihren Unmut kundtaten. Tags darauf beim Publikumsgespräch mit dem Ehrengast (anderswo heisst das «Masterclass» und ist nicht gratis) war auch der Spazio Cinema draussen auf der Wiese viel zu klein für den Ansturm.

Thompsons Auftritt wars aber auch wert, trotz uninspirierter Moderation. «Harry Potter»? Nicht so wichtig für sie, aber sehr gut bezahlt, «fragen Sie was anderes». Sie erinnerte an ihre Grossmutter, die als Bedienstete vergewaltigt wurde. Sie berichtete von einer Einladung von Donald Trump während des Drehs von «Primary Colors» Ende der neunziger Jahre; der habe sie in ihrer Garderobe angerufen, auf ein Telefon, dessen Nummer sie, damals frisch von Kenneth Branagh geschieden, selbst nicht mal gewusst habe («Das ist Stalking»). Und sie erzählte von ihren Anfängen als Komikerin – und dass sie einst dank eines frivolen Sketchs über Sex zum Auftrag gekommen sei, Jane Austens «Sense & Sensibility» zu adaptieren.

Wer weiss, vielleicht sieht jemand das Maisfeld bei Radu Jude und sagt sich: Genau unser Mann, um Jeremias Gotthelf zu adaptieren!