Filmfestival Locarno: Auswege: Flucht vor der Hitze

Nr. 33 –

Wenn die Welt zu heiss geworden ist: Welche Bewältigungsstrategien lassen sich im Festivalprogramm ausmachen, und welche versprechen am meisten Erfolg?

Still aus dem Dokfilm «Bogancloch»: ein Mann sitzt in einer Badewanne im Freien
Leicht exzentrisch: Jake Williams in Ben Rivers’ Dokfilm «Bogancloch». Still: Hopscotch Films

Für das Tessin gilt seit einigen Tagen die Hitzegefahrenstufe 4: «grosse Gefahr». Kaum ein Small Talk am Filmfestival Locarno, wo immerhin der Lido und die Maggia in Gehdistanz liegen, der nicht mit einer kurzen Klage über die Unerträglichkeit der Temperatur beginnt. Hitze könne, heisst es auf der Website des Bundes, die vor Naturgefahren warnt, «die Gesundheit beeinträchtigen und unter Umständen die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit mindern». Manche mögen einwenden, dass Letztere hier, wo man die meiste Zeit passiv im Kino sitzt, vernachlässigbar ist. Sie würden, weil ein Filmfestival allerhöchstens zu einem Drittel aus Filmeschauen besteht, irren. Und was die geistigen Fähigkeiten betrifft, so lässt sich festhalten, dass sich die konstante Überhitzung des Denkorgans tatsächlich eher schlecht verträgt mit der mitunter sperrigen Filmkost, für die das Filmfestival Locarno international bekannt ist.

Weshalb in einem Festivalbericht über das Wetter jammern? Weil sich Filme erstens ja auch auf die Realität beziehen wollen, weil zweitens kommende Realitäten nicht weniger, sondern mehr von meteorologischen Unerträglichkeiten bestimmt sein werden und weil sich drittens die Hitze hervorragend als Metapher für jegliche Situation in der geopolitischen Gegenwart anbietet, vor der man am liebsten davonlaufen möchte – wenn man denn könnte oder auch nur wüsste, wie und wohin.

Schlafen

Als erste Zwischenstation der Flucht bieten sich natürlich die mehr oder weniger gut klimatisierten Kinos an, in denen einem im besten Fall Optionen aus allen fünf Himmelsrichtungen präsentiert werden. Aus dem Wald von Clashindarroch beispielsweise, am Rande der schottischen Highlands, wo Jake Williams schon seit Jahrzehnten allein und ein bisschen exzentrisch wohnt. In «Bogancloch» hat sich der wortkarge Einsiedler bereits zum dritten Mal auf eine Zusammenarbeit mit dem experimentellen Dokumentarfilmer Ben Rivers eingelassen. In puncto Tempo, Tondesign und vor allem Bildtextur gleicht das kaum etwas, das man schon gesehen hat, und sprachliche Elemente gibt es kaum.

Im Idealfall hat das zur Folge, dass sich das Publikum an anderen, weniger fixierten Bedeutungsträgern orientiert, wodurch sich Wahrnehmung und Zeitempfinden verändern. Minutenlang beobachten wir den Protagonisten beim Schlafen, während sein Traum in der Körnung des schwarzweissen Filmmaterials durchzuschimmern scheint. Nicht wenige Zuschauer:innen verlassen während dieser Szene den Kinosaal. Wenn wiederum, Williams gibt gerade eine kreative Schullektion in Astronomie, die Kinder beim Ton der Pausenglocke mitten im Satz aufspringen, reagieren wir ähnlich irritiert wie er – was gibt es Künstlicheres als eine Unterteilung der Zeit in Zahlen?

Vom Schlafen handelt auch Radu Judes «Sleep #2», taugt aber ebenso wenig zur Flucht, versteht sich der Film doch – immerhin augenzwinkernd – als Fortsetzung von Andy Warhols «Sleep» (1964). Während fünfeinhalb Stunden durfte das Publikum damals einem Mann beim Schlafen zusehen. «Sleep #2» dauert noch eine Stunde und wird mit einem inspirierenden Zitat des Pop-Art-Künstlers eingeleitet: «Das Schönste am Leben ist es, tot zu sein.» Und so dürfen wir via aufgezeichnete Webcamaufnahmen Szenen am Grab des Künstlers beiwohnen. Solchen mit Rehen, Hasen und Eichhörnchen aus dem nahe gelegenen Naturpark etwa, die ungerührt um Warhols Grab streifen. Oder den Tourist:innen, die tagsüber dort picknicken, Selfies machen oder Campbell-Suppendosen auf den Grabstein stellen.

Filmstill aus «Eight Postcards from Utopia»
Himmlische Werbeclips: «Eight Postcards from Utopia» von Radu Jude.    Still: Saga Film

Wahrscheinlich hätte der Pop-Art-Künstler auch seine Freude gehabt am ersten Teil des Radu-Jude-Doppelprogramms: «Eight Postcards from Utopia» besteht zu hundert Prozent aus kurzen Werbeclips, die in den neunziger und nuller Jahren im rumänischen Fernsehen liefen. Die Clips – manche unter Mitarbeit von Radu Jude entstanden, der damals «einen Job brauchte» – repräsentieren das ganze Spektrum an kapitalistischen Versprechen, die nach dem Ende des kommunistischen Regimes auf die rumänische Bevölkerung losgelassen wurden.

Die technische Unbedarftheit der Clips, die zeitliche Distanz und Judes subversives Arrangement im Schnitt führen die portierten gesellschaftlichen Ideale dermassen ad absurdum, dass man heute nur lachen kann. Ein Lachen, das einem schnell im Hals stecken bleibt, wenn man bedenkt, dass sich mittlerweile weder die Ideale noch deren Nebenwirkungen verändert haben. Die rumänische Version der Gelben Seiten wird da mit der Vielfalt an Methoden angepriesen, mit denen sich eine (mutmasslich zu Recht) aufgebrachte Ehefrau beruhigen lässt: Wenn Blumen- und Schmuckgeschenke nicht mehr ausreichen, steht dem überforderten Mann ja immer noch der Besuch beim Waffenhändler offen.

Eigentemperatur regulieren

Apropos Gewalt: Als Destination zur Flucht vor der Hitze Locarnos scheiden noch heissere – lies: gefährlichere – Gegenden natürlich eher aus. Schliesslich gibt es denkwürdige Statistiken, die auf einen direkten Zusammenhang zwischen der Durchschnittstemperatur eines Ortes und der Anzahl von Gewaltverbrechen hinweisen. Dabei scheinen Reichtum und daran gekoppelte Klimaanlagenabdeckung höchstens formal einen Unterschied zu machen.

Das erfährt auch die ehemalige Mixed-Martial-Arts-Kämpferin Sarah, gespielt von der Theaterchoreografin Florentina Holzinger, im grandiosen «Mond» von Kurdwin Ayub. Einem allzu attraktiven Jobangebot aus Jordanien folgend, wo sie die drei Töchter einer reichen, aber dubiosen Familie trainieren soll, wird ihr leise erwachendes Bewusstsein, vielleicht mit dem eigenen Handeln etwas gegen die Ungerechtigkeit ausrichten zu können, rasch wieder in einem Feuerwall aus privaten Sicherheitsmännern und den eigenen selbstdestruktiven Bewältigungsmechanismen erstickt.

Währenddessen hat sich der «hoffnungslos romantische» Crackabhängige Bionico (Manuel Raposo) längst in dieser Selbstzerstörung eingerichtet – und wirkt dabei nicht unglücklich. Tod und Verderben folgen ihm in dieser «feindseligen Stadt» in der Dominikanischen Republik zwar auf Schritt und Tritt, dafür mit so viel Style und frischer kinetischer Energie, wie man sie aus anderen Gefilden kaum mehr kennt. Und mag auch die Fake-Dokumentation «La bachata de Bionico» von Yoel Morales, gezeigt im «Open Doors»-Programm, visuell und energetisch das genaue Gegenteil von «Bogancloch» darstellen, am Ende teilen Bionico in der Karibik und Jake Williams in Schottland doch die erfolgversprechendste Fluchtstrategie: mit den gegebenen Mitteln eine eigene Temperaturregulierung vorzunehmen, um sich dann ganz und gar auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren.