«Open Doors» vor dem Aus?: Weit entfernt von der Quelle
Die Sektion «Open Doors» beleuchtet am Filmfestival Locarno seit über zwanzig Jahren das Filmschaffen im Süden und im Osten. Der Fokus aufs afrikanische Kino könnte nun nach der Streichung der Deza-Kulturgelder der letzte sein.

Nach dem Abspann entschuldigt sich Lemohang Jeremiah Mosese vor dem ausverkauften Saal, wo gerade sein überbordender Filmessay «Ancestral Visions of the Future» lief: Er habe nicht den einladendsten Film gemacht, sagt der Regisseur aus Lesotho, und er rechne es dem Publikum hoch an, so lange durchgehalten zu haben. Tatsächlich hat sein Film von allem etwas (zu) viel: an traumartigen Texten, Bildern und Klängen, an Poesie, Assoziationen, Metaphern und Symbolen – und von der Farbe Rot. Die Empfehlung des Regisseurs vor dem Film lautete denn auch, möglichst «mit den Augen zu hören und den Ohren zu sehen».
Grandios das Schlussbild des Films: grüner Hügel vor leicht bewölktem Himmel, ein Reiter mit nacktem Oberkörper auf blutverschmiertem Schimmel, davor eine jüngere Person, die mit zwei Holzstecken rennend einen brennenden Autoreifen vor sich her rollt. Losgelöst von jedem narrativen Kontext, fügt sich das trotzdem perfekt in diesen überwältigenden Rausch aus rätselhaften Bildern ein, die für die fragmentierte Erinnerung an die Kindheit stehen sollen, begleitet von einem Offtext, mit dem sich auch ein Aphorismenband füllen liesse: «Weisssein ist eine Reaktion darauf, sich von der Quelle entfernt zu haben.»
Nicht alles im diesjährigen «Open Doors»-Programm von Locarno ist so weit von westlichen Sehgewohnheiten entfernt wie «Ancestral Visions of the Future». In der ersten von vier Ausgaben, die sich bis 2028 dem afrikanischen Kino aus 42 Ländern widmen, finden sich auch vertrautere Formen, erkennbarere Erzählmuster und klassischere Spannungsbögen. Ema Edosios wild erzählter «When Nigeria Happens» etwa handelt von einer Tanzgruppe, die sich den Zumutungen des modernen Nigeria mit improvisierten Tanzeinlagen entgegenstellt, und schlägt dabei auch Bögen, die in westlichen Szenarien nicht einmal denkbar wären. Daneben wirkt «The Bride» von Myriam Birara, der von einer Entführung – einem sogenannten Brautraub – wenige Jahre nach dem Genozid in Ruanda erzählt, beinahe klassisch. Der Wirkung dieses sanften, melancholischen und auch überraschend sinnlichen Films, der nie seine gerechte Empörung über das allseits erlittene Leid aus dem Blick verliert, tut dies keinen Abbruch.
Wo das Herz schlägt
«Open Doors» besteht seit zwanzig Jahren als Kooperation des Festivals mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) des Bundes. Über das Filmprogramm, das dem Publikum am Festival einen kuratierten Einblick ins Filmschaffen einer bestimmten Weltregion gibt, dient es zugleich als ganzjährige Austausch-, Vernetzungs- und Weiterbildungsplattform, die Filmschaffenden «aus dem Süden und Osten» den Zugang zum Schweizer und zum internationalen Markt ermöglichen soll. «Open Doors», so deklamierte Festivalleiter Giona A. Nazzaro anlässlich der Eröffnung des Filmprogramms, sei nicht weniger als «das schlagende Herz» des Festivals von Locarno.
Etwas weniger pathosgeladen formuliert es Zsuzsi Bánkuti, die Leiterin der Sektion, im Gespräch mit der WOZ: «Was ‹Open Doors› nach Locarno bringt, sind Diversität, Filme und Talente, die sonst nicht kommen würden.» Das liege nicht an den kleineren Filmbudgets und schon gar nicht an einer minderen Qualität der Filme, sondern an der fehlenden Offenheit europäischer Festivals, Filme zu zeigen, die «anders» sind. Das ist nicht ohne Ironie, da sich gleichzeitig ein wachsender Verdruss über das europäische Kino wahrnehmen lässt: das Gefühl, alles schon einmal gesehen zu haben.

Im Februar hat die Deza nun das Ende ihrer Zusammenarbeit mit Schweizer Kulturinstitutionen per Ende 2028 verkündet. Die so eingesparte Summe beläuft sich auf gerade mal zwei Millionen Franken pro Jahr (siehe WOZ Nr. 8/25). Für Institutionen wie «Open Doors» oder auch für den Filmfinanzierungsfonds Visions Sud Est bedeutet dies voraussichtlich das Aus. Letzterer sei die einzige europäische Förderstelle gewesen, wo nichteuropäische Filmproduktionen Geld hätten beantragen können, ohne einen europäischen Koproduzenten vorweisen zu müssen, sagt Zsuzsi Bánkuti. «Das war einzigartig: eine wirklich dekoloniale Art der Förderung.»
Weniger Geld als Chance?
Auch anderswo werden die etablierten, auf «Entwicklungszusammenarbeit» basierenden Förderstrukturen gerade drastisch reduziert – nicht nur von der Deza, nicht nur in der Schweiz. Yanis Gaye, französisch-senegalesischer Produzent und «Head of Studies» bei «Open Doors», vergleicht das mit dem Platzen einer Spekulationsblase. Er sieht darin aber auch eine Chance: Filmemacherinnen und Produzenten seien dadurch gezwungen, neue, lokale und im besten Fall auch nachhaltige Produktionsökosysteme aufzubauen.
Weniger Geld, so Gaye, bedeute nicht automatisch weniger Möglichkeiten. Er selbst würde nie einen US-Film produzieren wollen mit einem Zwanzig-Millionen-Dollar-Budget und der Erwartung, diese dann wieder einzuspielen. «Wenn ich eine halbe oder ganze Million auftreiben kann, ist das genug, um die Leute gut zu bezahlen und auch auszubilden, sodass stets Nachwuchs entsteht. Und wenn ich nach dem Dreh meinen Müll wegräume und die lokale Bevölkerung gut behandle, kann ich da später auch einen weiteren Film drehen.» Der Kapitalismus, meint der laut Selbstbezeichnung marxistisch-anarchistische Filmproduzent, lasse einen immer denken, der Wert eines Kunstwerks entspreche seinem Tauschwert – was natürlich komplett falsch sei. «Wenn ich einen Film machen will, dessen Zielgruppe etwa aus 10 000 Menschen besteht, dann ist es doch besser herauszufinden, wie hoch der gerechte Preis dafür wäre, statt zu versuchen, die Reichweite zu erhöhen und gleichzeitig den künstlerischen Wert zu verwässern.»
Natürlich sei die Unterstützung mit öffentlichen Geldern aus Europa oder durch NGOs für afrikanische Filmprojekte immer hilfreich gewesen. Diese berge aber immer auch das Risiko, dass Abhängigkeiten entstünden, so Gaye. «Wer einen ersten Film machen will und weiss, dass sich dieser wohl nur mit Geld von einer NGO finanzieren lässt, geht da hin und bietet eine Geschichte an, die sich mit deren Interessen deckt. So entstehen dann 10 000 Geschichten, die vom Brunnenbau in entlegenen Dörfern und solchen Dingen handeln – was aber nicht unbedingt der Realität des Ortes entspricht.» Genau deshalb sei es so wichtig, horizontale Finanzierungssysteme aufzubauen: mit Geld, das intern zirkuliert, statt von aussen zugeführt zu werden; und mit afrikanischen Produzent:innen, die mit den lokalen Realitäten und Möglichkeiten vertraut sind.
Wer verliert
Das wahrscheinliche Ende von «Open Doors» sei vor allem für die Schweiz ein herber Verlust, sagt Zsuzsi Bánkuti: für die Diversität der hiesigen Kulturlandschaft, für den Austausch und die Begegnung mit alternativen Verständnissen von Film, Kunst und Gemeinschaft.
Gibt es noch Hoffnung? Bánkuti ist vorsichtig zuversichtlich, dass vielleicht eine alternative Finanzierung gefunden und «Open Doors» so gerettet werden könnte. Und wie sieht das Yanis Gaye? «Ich hoffe es. Für euch.»