Julian Radlmaier: Solidarität der Sehnsüchtigen

Nr. 33 –

Manches ist erfunden, die absurdesten Motive sind verbürgt: Nach der marxistischen Vampirkomödie «Blutsauger» überrascht Julian Radlmaier in seinem neuen Film mit subversiver Romantik. Ein erster Höhepunkt im Wettbewerb von Locarno.

Diesen Artikel hören (7:17)
-15
+15
-15
/
+15
Neda, Ursula, Sung-Nam und dessen Enkel schlafen im klimatisierten Kleinbus
Neda, Ursula, Sung-Nam und dessen Enkel im klimatisierten Kleinbus. Still: Blue Monticola Film

Mittelalterliche Fachwerkhäuser, Häuserblocks aus DDR-Zeiten, Industriebrachen, Kirschbäume, ein riesiger Rosengarten und eine Abraumhalde aus dem Kupferabbau, die sich wie eine Fotomontage über die ganze Stadt erhebt: Das ist der spektakuläre Schauplatz von «Sehnsucht in Sangerhausen», dem neuen Film von Julian Radlmaier, in dem eine kleine Kreisstadt im südlichen Harzvorland zum Hort subversiv romantischer Kräfte wird. Für den Regisseur mit Wahlheimat Berlin, der sich bislang vor allem mit intellektuell verstiegenen Klassensatiren einen Namen gemacht hat, ist sie ungewohnt zugänglich, diese Abenteuerkomödie, die im Wettbewerb in Locarno ein erstaunlich breites Publikum erheiterte.

Der Plot ist episodenhaft und so abwegig verwoben, dass jeder Versuch, ihn nachzuerzählen, misslingen wird. Darum nur kurz: Es geht hauptsächlich um Ursula (Clara Schwinning), deren Familie seit Generationen im Ort ansässig ist und die als Kellnerin im Café neben dem Rosengarten arbeitet und vor Schichtbeginn auch noch im lokalen Möbelhaus staubsaugt. Die Kirschen im Supermarkt kann sie sich trotzdem nicht leisten. Es geht aber auch um Ursulas Urururururgrossmutter Lotte (Paula Schindler), die im 18. Jahrhundert als Magd für die Aristokratie Kirschen pflücken und Nachttöpfe leeren musste und nun als Gespenst durch die Gässchen spukt. Und dann sind da noch Neda (Maral Keshavarz), eine iranische Filmschulabsolventin, die sich als Low-Budget-Reise-Influencerin über Wasser hält, um ihr Visum nicht zu verlieren, und der koreanischstämmige Stadtführer Sung-Nam (gespielt von Radlmaiers Stammschauspieler Kyung-Taek Lie), der mit einer Tour zu den «interessantesten Sehenswürdigkeiten der Region im klimatisierten Kleinbus» wirbt, sowie sein Enkel.

Eine Flucht vor der Polizei führt die vier zusammen – und in jene Höhle, in der sich einst schon Lotte, die sich mit ihrem geliebten Steinschlucker Norbert auf den Weg ins revolutionäre Frankreich machte, vor den Soldaten des Fürsten versteckte. Wie kommt man auf so was?

Rosenschlager und Nackte

Radlmaier lacht: Er habe Sangerhausen vorher auch nicht gekannt. Ein Foto sei es gewesen, das ihn auf das Städtchen aufmerksam gemacht habe, erzählt der Regisseur, der selbst aus Bayern stammt, im Gespräch nach der Premiere. «Diese Abraumhalde sah aus wie der Fuji in Katsushika Hokusais Holzschnitten.» Vor Ort habe er dann immer mehr Relikte der deutschen und deutsch-deutschen Geschichte entdeckt, «ambivalente historische Schichten», die in Architektur und Landschaft der Stadt und ihrer Umgebung – die heute als Hochburg der Rechten gilt – eingesickert sind. Zusammen mit Kameramann Faraz Fesharaki habe er dann alles, was sie unterwegs so gefunden hätten, in den Film eingebaut. Die absurdesten Motive – etwa Nacktwanderer auf dem Harzer Naturistenstieg, der Schwefel ausdünstende «Stinkschiefer» und der Sangerhausener Rosenschlager – sind verbürgt. Ein bisschen was hätten sie natürlich aber auch dazuerfunden.

Portraitfoto von Julian Radlmaier
Julian Radlmaier Foto: Zorica Medo

Thematisch besonders gut traf sich die Entdeckung, dass Novalis, der in seinem Roman «Heinrich von Ofterdingen» die «blaue Blume» erfunden hat – ein zentrales Symbol der romantischen Sehnsucht –, in der Gegend geboren worden war. Was ihn an der Sehnsucht interessiere, sagt Radlmaier, seien aber keine aristokratischen, christlichen oder nationalen Verschmelzungs- und Auflösungsfantasien. Ihm gehe es um die «revolutionäre Energie», die in dieser Regung stecke, diesen «präpolitischen Drive», der aus dem Wunsch oder dem Gefühl heraus entstehe, «das Leben könnte eigentlich anders oder besser sein».

Dieses Verlangen trieb schon die armen Schlucker in Radlmaiers früheren Filmen um – wobei es in «Blutsauger» (2021) oder in «Ein proletarisches Wintermärchen» (2014) keine Hoffnung auf Verwirklichung gab. Das sollte diesmal anders sein, und darum musste auch ein neues formales Konzept her. Der Film sollte «rhythmisch und visuell komplexer werden», um die verschiedenen Welten und Realitäten, die in der Handlung aufeinanderprallen und die sich am Ende vereinigen sollten – «die alte und die moderne Welt, die Arbeiter- und die Mittelschicht, das städtische und das ländliche Leben» –, auch ästhetisch auszudrücken.

Auch hier erwies sich unter anderem Novalis als gute Referenz: Dessen «fragmentarische, hybride, facettenreiche Art zu schreiben», diese besondere Mischung aus «Märchen, fantastischen und poetischen Beschreibungen» versuchten Radlmaier und Fesharaki auf ihre Drehbuch- und Kameraarbeit zu übertragen. Das Ergebnis: gespenstisch lustige, sehnsüchtige Zooms und leichte Schwenks auf «magischem» 16-mm-Filmmaterial.

Selbst für die «blaue Blume» gibt es eine ideologische Entsprechung: einen glänzenden blauen Stein, der wie ein Pfand der Hoffnung von einer Episode zur anderen weitergereicht wird – nachdem ihn der von Lotte geliebte Steinschlucker erfolgreich ausgeschieden hat. Das stärkste Symbol subversiver Romantik und Sehnsucht liegt aber in einer Einstellung am Schluss. Darin sieht man die Protagonist:innen eng aneinandergeschmiegt in Sung-Nams klimatisiertem Kleinbus schlafen, wie eine Bild gewordene Entsprechung der im Film immer wieder eingespielten romantischen Interpretation der «Internationale»: Sehnsüchtige aller Länder, vereinigt euch – unabhängig von Herkunft, Milieu oder Bildung.

Und die soziale Aneignung?

Radlmaiers eigene Geschichte ist übrigens ähnlich international und sozial divers wie sein Filmpersonal. Die Schweizer Grossmutter kommt aus einer Familie von Melker:innen, die um die Jahrhundertwende nach Ostpreussen geschickt worden war, um die dortige Milch- und Käseindustrie mit aufzubauen, und es gibt auch einen Arbeiterzweig in der Familie. Manchmal betone er diese Herkunft, um sich gegen den Vorwurf der Aneignung fremder sozialer Lebenserfahrungen zu verteidigen, erklärt Radlmaier auf Nachfrage. Das sei aber eigentlich eine Ausrede. Bei allem Verständnis für die Debatte: Er glaube ganz grundsätzlich an die Möglichkeit der «Teilbarkeit von Erfahrungen».

In den Siedlungen, die Fabriken früher für ihre Arbeiter:innen bauen liessen, waren die Treppenhäuser oft so konzipiert, dass sich die Leute darin möglichst wenig begegneten, um keine Gemeinschaft entstehen zu lassen, die den Bauherren gefährlich werden könnte. «Sehnsucht in Sangerhausen» ist Radlmaiers filmischer Gegenentwurf.