Erbschaftssteuer-Initiative: «Steuern sind das Rückgrat der Demokratie»
Die deutsche Politikwissenschaftlerin Martyna Linartas über die Wirkmacht neoliberaler Ideologie und die Glorifizierung extremen Reichtums.
WOZ: Martyna Linartas, in drei Wochen kommt die Juso-Initiative zur Einführung einer Erbschaftssteuer zur Abstimmung. Sie verknüpft extremen Reichtum und Klimadesaster – entsprechend sollen die künftigen Einnahmen aus dieser Steuer in einen Klimafonds fliessen. Ist das sinnvoll?
Martyna Linartas: Ja, ganz klar. Überreichtum und Klimakrise hängen direkt zusammen. Aber dieser Zusammenhang rückt erst seit wenigen Jahren langsam ins Zentrum des Bewusstseins, selbst im akademischen Bereich. Der Diskurs befindet sich noch im Aufbau. Insofern überrascht es mich nicht, dass dieser Aspekt im aktuellen Schweizer Abstimmungskampf keine besondere Rolle spielt.
Auch in Deutschland sind diese beiden Themenfelder – Ungleichheit und Überreichtum auf der einen Seite, die Klimakrise auf der anderen – erst in den letzten Jahren verbunden worden, etwa in der Allianz «Vermögen besteuern jetzt», in der rund dreissig sozial- und klimapolitische NGOs und Vereine zusammenarbeiten. Dieser Schulterschluss ist neu. Aber er ist umso wichtiger, um das Thema in die Breite der Gesellschaft zu bringen.
WOZ: Warum sprechen Sie von «Überreichen» statt etwa von «Superreichen»?
Martyna Linartas: Beim Wort «super» kreiert unser Gehirn positive Assoziationen. Da ist der Superheld nicht mehr weit. Wenn wir von den Reichsten in glorifizierender Weise als «Superreichen» sprechen, macht das etwas mit unserem Blick auf das Thema. Wenn man extreme Ungleichheit als problematisch begreift und eine kritische Auseinandersetzung sucht, ist es konsequent, von Überreichen statt von Superreichen zu sprechen.
Die Erbenexpertin
Martyna Linartas (35) ist Politikwissenschaftlerin und forscht zu den Themen Ungleichheit und (Re-)Produktion von Vermögen. 2022 gründete sie die Wissensplattform ungleichheit.info mit und leitet diese seitdem.
Linartas lehrt an der FU Berlin sowie an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz. Im Frühjahr erschien ihr Buch «Unverdiente Ungleichheit. Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann» – ein Bestseller.
WOZ: Wie hängen denn extremer Reichtum und Klimakatastrophe konkret zusammen?
Martyna Linartas: Wenn wir uns anschauen, wer die Klimakrise befeuert, sind das vor allem grosse Konzerne, insbesondere die Fossilindustrie. Betrachtet man die individuelle Ebene, tragen dafür vor allem Überreiche die Verantwortung. Das ist mittlerweile hinreichend durch Studien belegt. Zum Beispiel im «Climate Inequality Report» des World Inequality Lab, der erst vor wenigen Tagen zum zweiten Mal erschienen ist. Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, steht jedem Menschen auf der Erde ein jährlicher Ausstoss von Treibhausgasen in Höhe von maximal zwei bis drei Tonnen pro Jahr zu. Die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung stossen derzeit jährlich pro Kopf etwa dreissig Tonnen an Treibhausgasen aus, das reichste Prozent über hundert Tonnen.
Mit ihrem Lebensstil – den Privatjets und Jachten – schlagen Milliardär:innen mit mehr als 8000 Tonnen im jährlichen Schnitt zu Buche. Das heisst, die Überreichen verursachen durch ihren Konsum, sowie zusätzlich durch ihre Investitionen, immense Umweltschäden – und bremsen mit ihrer unverhältnismässigen Kontrolle über Kapital und politischen Einfluss Klimaschutzmassnahmen aus. Gleichzeitig sind es die Ärmsten und Schwächsten, vor allem im Globalen Süden, die die Last dieser Klimaschäden überproportional tragen müssen. Diese Ungleichheit zu verringern, heisst also auch, den Klimaschutz zu stärken.
WOZ: Im Frühjahr erschien Ihr Buch «Unverdiente Ungleichheit», in dem Sie das weitverbreitete Unwissen über die enorme Vermögensungleichheit in Deutschland beschreiben. Sie untersuchen zudem, welche Narrative die Debatte um eine höhere Besteuerung prägen – etwa dass alle Vermögenden wegziehen würden und Familienunternehmen samt Arbeitsplätzen bedroht wären. Es sind dieselben Erzählungen, die aktuell auch den Abstimmungskampf in der Schweiz dominieren.
Martyna Linartas: Das verwundert mich nicht. Sie hängen mit mehreren grundlegenden Problemen zusammen. Eines davon ist die Wirkmacht der neoliberalen Ideologie. Zu deren Kern gehört etwa die sogenannte Trickle-down-Idee, die Erzählung, dass man die Reichen und die grossen Konzerne bloss nicht besteuern solle, weil diese Arbeitsplätze schaffen und ihre Mehreinnahmen reinvestieren würden, wovon dann alle profitierten. Diese Annahme – und es ist nichts anderes als eine theoretische Annahme – ist wissenschaftlich längst komplett vom Tisch gefegt.
Die Wirtschaftswissenschaftler David Hope und Julian Limberg haben untersucht, welchen Effekt Steuersenkungen für Reiche auf das Wirtschaftswachstum und die Arbeitsplätze hatten. Der Effekt ist – ich zitiere – «nicht von null zu unterscheiden». Doch trotz aller Evidenz werden laufend weiter Steuern für Reiche und Konzerne gesenkt. Mit dem einzigen lang anhaltenden Effekt, dass die Schere zwischen den Überreichen und dem Rest immer weiter aufgeht, also die ökonomische Ungleichheit weiter wächst. Das wiederum führt dazu, dass immer mehr Menschen das Vertrauen in politische Institutionen und etablierte Parteien verlieren. Sie sehen und erfahren, dass nicht für die breite Bevölkerung Politik gemacht wird, sondern für eine extrem kleine, extrem privilegierte Schicht. Und hier liegt ein weiteres Problem.
WOZ: Welches?
Martyna Linartas: Dass wir in unseren westlichen Gesellschaften die Vermögenden geradezu glorifizieren. Das sind eben diejenigen, die Arbeitsplätze schaffen, die ins Risiko gegangen sind, die besonders klug und intelligent sind. Wer wären wir denn ohne die? So nehmen wir hin, dass die Überreichen mit ihrem Wegzug drohen und sich herausnehmen, selbst entscheiden zu können, ob und wie hoch sie besteuert werden sollen. Als wäre die Politik ihnen völlig ausgeliefert – anstatt zu sagen: «Hey, ihr könnt gerne wegziehen, kein Problem. Aber dann zahlt erst euren fairen, gerechten Anteil an Steuern», durch die Wegzugbesteuerung, so wie das in Deutschland der Fall ist. Stattdessen kursieren in der Debatte häufig negative Begriffe wie «Steuerlast» oder gar «Steuerraub».
WOZ: Wie funktioniert denn diese Wegzugsteuer in Deutschland?
Martyna Linartas: Die Wegzugsteuer wurde 1972 nachgeschärft, nachdem ein reicher Unternehmer in die Schweiz gezogen war, um Steuern zu vermeiden. Menschen, die hohe Vermögen besitzen, haben in aller Regel nicht einfach nur Geld auf der hohen Kante liegen, sondern vor allem auch Betriebsvermögen. Würden sie wegziehen und ihr Betriebsvermögen mitnehmen, würde man sich die Wertsteigerung dieses Betriebsvermögens anschauen und eine Steuer darauf ansetzen. Unterm Strich müssten Überreiche auf diese Weise in Deutschland rund dreissig Prozent ihres Vermögens auf den Tisch packen. Im Fall der reichsten Frau Deutschlands etwa, der BMW-Erbin Susanne Klatten, wären das über sechs Milliarden Euro.
WOZ: Wie liessen sich Steuern insgesamt positiver labeln?
Martyna Linartas: Für mich sind Steuern das Rückgrat der Demokratie. Wenn man einen Milliardär in die Wüste setzt, würde er sich seine Milliarde wieder aufbauen? Würde er nicht. Es gibt sehr gute Gründe dafür, weshalb die meisten Multimillionär:innen und Milliardär:innen aus dem Globalen Norden kommen, wo Steuereinnahmen in die Infrastruktur investiert werden, ins Gesundheitswesen, ins Bildungssystem und in den öffentlichen Verkehr. Diese Infrastruktur bildet die Menschen aus, hält sie gesund und mobil. Und wenn es den Menschen mal nicht gut geht, dann bestehen Sicherheitsnetze. Es sind die Steuereinnahmen, die diese Strukturen ermöglichen.
Doch dieses System gerät immer mehr ins Wanken, weil die Steuern etwa in Deutschland zu einem immer grösseren Teil von der Mitte der Gesellschaft bezahlt werden – statt von den Überreichen und den Konzernen. Die Menschen in den Betrieben zahlen also hohe Steuern auf Arbeit; die Menschen, die diese Betriebe vor allem erben, zahlen kaum bis gar keine Steuern. Auf diese Weise verkommen wir wieder zu einer Erbengesellschaft.
WOZ: Was verstehen Sie darunter?
Martyna Linartas: Es gibt zwei Formen von Vermögen, das ist wichtig fürs Verständnis: jenes, das wir selbst im Lauf unseres Lebens aufbauen, und jenes, das wir durch Erbschaften und Schenkungen erhalten. Wäre allein die eigene Leistung entscheidend, könnten wir von einer echten Leistungsgesellschaft sprechen. Aber wir stehen an einem völlig anderen Punkt: In der Schweiz werden mittlerweile jährlich über hundert Milliarden Franken vererbt oder verschenkt – Tendenz steigend. Auch in Deutschland machen Erbschaften und Schenkungen inzwischen mehr als die Hälfte des Vermögens aus. Das heisst, wir sind schon jetzt keine Leistungsgesellschaften, sondern Erbengesellschaften.
Der eigene Beitrag zur Gesellschaft zählt immer weniger, das Glück oder Pech in der «Spermalotterie» hingegen immer mehr. Ich verwende diesen Begriff übrigens ganz bewusst, weil grosse Vermögen meist über die Väter oder Grossväter vererbt werden. Wir stehen damit wieder am fast gleichen Punkt wie vor hundert Jahren: zurück in der Erbengesellschaft, in der vor allem zählt, in welche Familie man geboren wird. Einige Wissenschaftler:innen sprechen von Neofeudalismus.
WOZ: Dabei gab es im 20. Jahrhundert eine ganz andere Entwicklung, wie Sie in Ihrem Buch aufzeigen.
Martyna Linartas: In den ersten Jahren der Weimarer Republik lag die Erbschaftssteuer bei bis zu neunzig Prozent. Es war die zentrale Steuer, die den Unterschied zwischen der Demokratie und der Monarchie markierte. In der Folge sank der Einfluss von Erbschaften auf die Vermögensanteile in der Gesellschaft stark – auf etwas über zwanzig Prozent. Doch seitdem der Neoliberalismus in den siebziger Jahren Einzug gehalten hat, ist dieser Anteil wieder kräftig gestiegen – auf mittlerweile über fünfzig Prozent.
Darf ich Ihnen zum Schluss auch noch eine Frage stellen? Wie viel Vermögen besitzt die reichste in der Schweiz lebende Person?
WOZ: Etwa 38 Milliarden Franken. Es handelt sich dabei um einen Erben der Luxusmarke Chanel.
Martyna Linartas: Ich versuche immer, eine solch abstrakte und unvorstellbare Summe erfahrbar zu machen. Stellen Sie sich vor, ein Zentimeter entspricht 50 000 Franken. Und nun haben wir ein A4-Blatt, also etwa dreissig Zentimeter, und gehen Zentimeter für Zentimeter vom unteren bis zum oberen Blattrand. Das ganze Blatt, hochkant aufgestellt, entspräche dann etwa 1,5 Millionen Franken. Überlegen Sie mal kurz, wo Sie Ihr Vermögen eintragen würden – wie viele Zentimeter über dem unteren Blattrand? Und wo ist der reichste Schweizer? Sie müssten über sieben Kilometer in die Höhe gehen, um den Punkt zu erreichen, wo das Vermögen des Chanel-Erben liegt. Damit ist er der Flughöhe von Flugzeugen deutlich näher als bei uns auf dem Boden des Blattes. Wir am Boden können diesen Überreichtum nicht erahnen – und die Überreichen nicht unsere Lebensrealitäten.