Auf allen Kanälen: Schlichte Fantasien
Ein Dokfilm rekonstruiert Missbrauchserfahrungen bei einem Casting. Das anschliessende Gespräch zwischen Schauspieler:innen aus zwei Generationen verläuft durchaus hoffnungsfroh.

Fünf junge Schauspielerinnen berichten in Alison Kuhns konzentriertem, aufwühlendem Film «The Case You» von einem Casting, bei dem so einiges aus dem Ruder lief. Gemeinsam rekonstruieren sie, wie sie 2015 gruppenweise durch verwinkelte Gänge in einen Saal geschleust wurden – ohne zu wissen, was sie erwartete und wer sonst noch im Raum anwesend war. Sie erzählen, wie sie dann am Mikrofon standen, den gelernten Text direkt in eine Kamera sprechen sollten, wie einige von ihnen plötzlich und ohne Vorwarnung von hinten angefasst wurden, manche grob, andere intim. Wie sie überrumpelt wurden – und realisierten, dass diese Überrumpelung wohl beabsichtigt war. Das Ziel: keine gespielten, sondern echte Gefühle in ihnen zu provozieren – Angst, Wut, Widerstand, Verwirrung, Scham.
Hängige Klage
Mehrere Frauen verliessen das Casting fluchtartig, andere kehrten für ein zweites Vorsprechen zurück. Eine von ihnen erzählt, wie sie beim Recall aufgefordert wurde, sich nackt auszuziehen – ein sehr unüblicher Vorgang bei einem Vorsprechen –, und wie die Produzentin sie «beruhigt» habe: Der Regisseur stehe auf Schambehaarung.
Später stellte sich heraus, dass diese Castingbühne zugleich ein Filmset war. Die Aufnahmen waren zu einem Film mit dem Titel «Achtung! Casting» verarbeitet worden. Bevor dieser 2018 an einem grossen Filmfestival gezeigt werden sollte, leiteten einige Castingteilnehmerinnen – unter ihnen die Protagonistinnen von «The Case You» – rechtliche Schritte ein. Sie wollten die Veröffentlichung verbieten oder zumindest erwirken, dass die Szenen mit ihrer Beteiligung herausgeschnitten würden. Seitdem ist der Film nicht öffentlich gezeigt worden, eine zivilrechtliche Klage ist hängig.
«The Case You» läuft in Deutschland in den Kinos; in der Schweiz ist bis jetzt kein Kinostart geplant. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie intensiv das Thema spätestens seit dem Fall Weinstein debattiert wird. Erstaunlich auch, weil der Regisseur, um den es geht, ein Schweizer ist. Sein Name wird auf Wunsch der Klägerinnen nicht genannt, um ihm und seinem Film keine Aufmerksamkeit zu schenken.
Nachdem die «NZZ am Sonntag» und Tamedia-Zeitungen über den Fall berichtet hatten, war «The Case You» letzte Woche im Zürcher Kino Kosmos zu sehen, eingeladen hatte der Verein Swan, der sich «für Gleichstellung und Verschiedenheiten der Gender in der Schweizer audiovisuellen Industrie» engagiert.
Vor allem Vertrauen
«Vieles, was heute als Belästigung gilt, hiess früher Premierenfeier.» Im Podiumsgespräch im Anschluss an die Filmvorführung zitiert die Regisseurin und Autorin Katja Früh diesen bösen Kalauer von Harald Schmidt. Sein Spruch markiert, dass sich etwas verändert hat – und verrät gleichzeitig anhaltende Arroganz.
Zusammen mit der Schauspielerin Esther Gemsch zeigt sich Früh sehr berührt von «The Case You» – beide verneigen sich vor dem Mut der jungen Frauen. Gemsch selber hatte bereits 2018 in der «Zeit» von massiven Übergriffen durch den deutschen Regisseur Dieter Wedel berichtet, dem auch noch andere Frauen Mobbing, Gewalt und sexuelle Nötigung vorwerfen.
Als Vertreterinnen einer älteren Generation von Theater- und Filmschaffenden machen Gemsch und Früh eindringlich klar, wie selbstverständlich gewaltsame Zugriffe auf weibliche Körper früher waren – und wie Erzählungen von Übergriffen in Form von frivolen Anekdoten offen kursierten. Gemeinsam mit Aileen Lakatos von «The Case You» analysieren sie solche Missbräuche auch als Auswuchs einer fatalen Vorstellung von Regisseuren als Genies, denen niemand widersprechen darf und die Schauspieler:innen als «Knet in ihren Händen» (Früh) begreifen.
Einen starken Auftritt auf dem Podium hat auch Kasia Szustow: Sie berät Netflix-Produktionen oder das Schauspielhaus Zürich zu Fragen von Sex, Aggressionen und anderen zwischenmenschlichen Komplikationen. Intimacy Coach Szustow versteht sich explizit nicht als «Moralpolizei». Stattdessen erklärt sie cool und schlüssig, dass es für eine gelungene Darstellung von Sex und Gewalt einen geschützten intimen Rahmen und vor allem Vertrauen braucht – und sicher keinen machtgeilen Regisseur, der Schauspieler:innen blossstellt und ihnen seine eigenen schlichten Fantasien aufzwingt.