Literatur: Höher dosierte Wirklichkeit

Nr. 7 –

Buchcover von «Weltalltage»
Paula Fürstenberg: «Weltalltage». Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2024. 320 Seiten.

Seit Kindheitstagen leidet sie an einem Schwindel, für den niemand eine Erklärung hat. Die namenlose Protagonistin aus Paula Fürstenbergs Roman «Weltalltage» ist chronisch krank. Ein Heilmittel gibt es nicht, an wechselnden Diagnosen, vagen Mutmassungen und gut gemeinten Ratschlägen mangelt es hingegen nicht. Ihre Krankheit wird relativiert, psychologisiert, auf Charaktereigenschaften oder soziale Verhältnisse zurückgeführt. Ärzt:innenpraxen hat die Mittdreissigerin, die ausnahmslos in Du-Form erzählt, mittlerweile zur Genüge gesehen. Max, ihr Mitbewohner und bester Freund, unterstützt und begleitet sie, bis er selbst an einer akuten Depression erkrankt. «Max war der Gesunde, du die Kranke», schreibt die Protagonistin über die Rollenverteilung ihrer Freundschaft, die mit Max’ Diagnose herausgefordert wird.

Der zweite Roman der deutschen Autorin beleuchtet Krankheit wie auf einem Seziertisch. Sie erkundet dazu die Sprache, die uns für diese körperliche Realität zur Verfügung steht, stellt fest, wie im Gemenge von medizinischen Fachbegriffen und ungenauer Alltagssprache wenig da ist. «Es gibt bei Krankheit eine grundsätzliche Verwirrung, ob man etwas bekommt oder verliert: Was hast du? und Was fehlt dir? meinen dasselbe», denkt sich die Erzählerin etwa. Die Autorin greift zur Form der Listen, stellt dort eine künstliche Ordnung her, wo selten eine zu finden ist.

Der Roman zeigt schmerzlich: Krankheit ist keine Metapher, «sondern körperliche Realität», eine «höher dosierte Wirklichkeit». Dennoch ist sie für die Gesellschaft oft unsichtbar, trägt sich grösstenteils in geschlossenen Räumen zu, im Stillen. Und wird doch von ebendieser Gesellschaft geformt, von den sozialen Verhältnissen, stigmatisierender Sprache, von Scham oder Schuldfragen. Du bist chronisch krank? Dann versuchs doch mal mit Yoga, iss mehr Salat. Friss nicht alles in dich rein.

Zärtlich, klug und äusserst politisch tastet diese literarische Recherche das Koordinatensystem der Krankheit ab, entblösst Tabus und hat etwas wahnsinnig Tröstendes.