Das ererbte Amulett

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Diese Woche gab es in den USA wirklich etwas zu feiern: Juneteenth, die Befreiung der afroamerikanischen Bevölkerung aus der Sklaverei. Juneteenth ist ein Schachtelwort aus «june» (Juni) und «nineteenth» (der neunzehnte). Am 19. Juni 1865, nach vier Jahren schrecklichem Bürgerkrieg, wurde die Emanzipation aller versklavten Menschen in den wiedervereinigten amerikanischen Nord- und Südstaaten ausgerufen. Seit 1866 ehren Afroamerikaner:innen diesen Tag. Doch erst 2021 erklärten der US-Kongress und Präsident Joe Biden Juneteenth zum nationalen Feiertag. Und bereits wird der Stellenwert des Schwarzen Unabhängigkeitstags wieder infrage gestellt. Verunsicherte US-Bürger:innen fragen allen Ernstes, ob es noch erlaubt sei, das Ende der Sklaverei zu feiern. Einige Städte haben die Juneteenth-Veranstaltungen in vorauseilendem Gehorsam gestrichen, weil Präsident Trump bekanntlich DEI («diversity, equity, and inclusion»), also Vielfalt, Gleichberechtigung und Teilhabe, nicht fördern und schon gar nicht feiern will.

Als 2000 der zweitjüngste nationale Feiertag, der Martin Luther King Day, endlich auch im Bundesstaat New Hampshire, in dem ich damals wohnte, eingeführt wurde, sagte meine hochbetagte Nachbarin Grace: «Ich bin keine Rassistin, doch es ist nicht richtig, dass MLK einen ganzen Tag für sich bekommt, während sich alle US-Präsidenten mit dem einen ‹Presidents’ Day› begnügen müssen.»

Wer meint, die acht Jahre Amtszeit von Präsident Barack Obama hätten solch antiquiertes Schwarzweissdenken etwas aufgeweicht, liegt falsch. Nach Obama kam 2017 Donald Trump ans Ruder. Der afroamerikanische Autor Ta-Nehisi Coates schrieb damals, der rasante Aufstieg des politischen Aussenseiters wäre ohne die erste «n***** presidency» nicht möglich gewesen. Seit jeher trügen die US-Amerikaner:innen ihr Weisssein wie ein ererbtes Amulett. Nun habe Trump die Patina des Anstands entfernt, den Talisman aufgebrochen und seine schauerliche Energie freigelegt. Für Trump sei «whiteness» nicht abstrakt oder symbolisch, sie bilde den Kern seiner Macht.

Meine US-amerikanische Enkelin erzählte mir kürzlich, dass sie in der Highschool nächstes Jahr Ta-Nehisi Coates’ Brief an seinen Sohn «Zwischen mir und der Welt» durchnehmen werden. Mein erster Gedanke war: Schön, dass die das in Maine noch wagen! In vielen öffentlichen Schulen wird das preisgekrönte Buch über die anhaltende rassistische Gewalt in den USA mittlerweile nämlich nicht mehr gelesen. Eltern haben sich beschwert, dass ihre weissen Kinder sich wegen solcher Lektüre schuldig fühlen könnten. In South Carolina gibt es bereits ein Gesetz gegen jeglichen Unterricht, der bewirkt, dass «ein Individuum wegen seiner Ethnie oder seines Geschlechts Unbehagen, Schuld, Angst oder jegliche andere Art von psychologischer Beklemmung fühlt». Keine Ahnung, wie man lernen und wachsen kann, ohne je ein Unbehagen zu verspüren. Minderheiten jedenfalls war das noch nie vergönnt.

Der superweisse Präsident verlangt unter anderem auch eine Rückbenennung von Militärschiffen und Militärbasen. Denn in den letzten paar Jahren waren die Plaketten von Sklav:innenhaltern und Südstaatengenerälen endlich von diesen Institutionen entfernt und stattdessen historisch wichtige Figuren, darunter Bürgerrechtskämpfer:innen, Feministinnen und queere Menschen, geehrt worden. Trump will zurück zu den alten Namen – und den Werten der Sklav:innenhaltergesellschaft. Der Kongress will das nicht; er hat 2020 gegen Präsident Trumps Veto gesetzlich verboten, militärische Einrichtungen nach Helden der ehemaligen abtrünnigen Südstaatenkonföderation zu benennen. Das Pentagon fand jetzt einen faulen Kompromiss: Verwendet werden wieder die alten Namen – zum Beispiel «Fort Lee» –, doch, so behaupten die Militärköpfe augenzwinkernd, damit sei nicht etwa der Bürgerkriegsgeneral und Sklav:innenhalter Robert Lee gemeint, sondern ein bislang unbekannter Gefreiter namens Fitz Lee aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags «Fussnoten aus dem Trumpozän» von Lotta Suter. Die Mitbegründerin sowie langjährige Redaktorin und Auslandskorrespondentin der WOZ lebt seit vielen Jahren im US-Bundesstaat Vermont. Von dieser ländlichen Peripherie aus schreibt sie bis Mitte Juli ihre Kolumne, in der sie dem Echo der Politik in Washington lauscht.