Frank Urbanioks Mission: Die Erfindung des kriminellen Ausländers

Nr. 16 –

Der vielleicht profilneurotischste Psychiater der Schweiz hat ein Buch über Migration geschrieben.

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Als Frank Urbaniok noch Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Diensts des Kantons Zürich war, entwickelte er das Prognoseinstrument Fotres: Es basiert auf medizinischen Kodifizierungssystemen und soll die Rückfallgefahr von Gewalt- und Sexualstraftäter:innen berechnen. Im Grunde funktioniert der Mensch dieser Auffassung zufolge nach statistischen Gesetzmässigkeiten und biologischen Markern, sein Verhalten ist berechenbar.

Heute ist Urbaniok selbstständiger Psychiater, Gutachter und mässig erfolgreicher Autor. Zweifellos hat er vorausgesehen, dass Journalist:innen ihn ausführlich zu seinem neuen Buch befragen, ihm Interviews, Porträts und Talksendungen widmen werden, während (oder weil) er sagt, der Inhalt sei vielen Verlagen und Medienhäusern zu «heikel», niemand – ausser einem unerschrockenen Horgemer Kleinstverlag – habe es drucken wollen.

Es heisst «Schattenseiten der Migration. Zahlen, Fakten, Lösungen», und Urbaniok widmet sich darin dem statistisch erfassten Merkmal von Täter:innen, das es ihm besonders angetan hat: der Staatsangehörigkeit. Damit ist er bekanntermassen nicht allein, «Ausländerkriminalität» ist der dafür erfundene Begriff, die SVP lebt davon, Urbaniok benutzt ihn fünfzig Mal im Buch. Zum Vergleich: Das eigentlich auffälligste Merkmal in Kriminalitätsstatistiken – das Geschlecht – wurde nie mit einem Begriff geehrt, «Männerkriminalität» hat keinen Wikipedia- oder Duden-Eintrag.

«Kultur» und Eifersucht

Der Autor hantiert mit Kriminalitätsstatistiken aus den deutschsprachigen Ländern (Polizei-, Verurteilten- und Inhaftiertenstatistiken). Diese sagen wenig über die tatsächliche Kriminalitätsentwicklung aus. Die Ende März veröffentlichte polizeiliche Kriminalitätsstatistik zeigt etwa einen starken Anstieg von Vergewaltigungen in der Schweiz an. Kriminolog:innen werteten das positiv: Es werden wohl mehr Vergewaltigungen überhaupt zur Anzeige gebracht. Auch Verurteilten- und Inhaftiertenstatistiken belegen in erster Linie, dass die Ausländer:innen, die eher beobachtet, eher kontrolliert und eher angezeigt werden, auch eher verurteilt und inhaftiert werden.

Die Statistiken dienen Urbaniok aber ohnehin nur als Vehikel für sein eigentliches Thema: das der «gefährlichen kulturellen Prägung». Seitenweise entwickelt der Forensiker, der sich mit Fällen schwerer Gewalt beschäftigte, um deren Komplexität weiss und eigentlich durchaus fähig wäre, zu differenzieren, unglaublich simple Thesen dazu. Ein Beispiel: Femizide durch «Menschen mit anderer Herkunft» seien Ergebnis «kulturell geprägter Rollenbilder», schreibt Urbaniok. Seien die Täter «Deutsche, Österreicher oder Schweizer», fährt er fort, dann könne es sich um «krankhaft gesteigerte Eifersucht oder Kränkungen» handeln. «Psychologische Motive» bei den einen, «kulturelle» bei den anderen.

Es gibt unzählige solche Stellen, die eine willkürliche, von Stereotypen durchdrungene Trennung zwischen «uns» und «denen» entblössen, wobei Letztere anders behandelt werden sollen, weil sie angeblich auch anders sind. Überdeutlich wird das da, wo Urbaniok von «Fürsorgepflicht» gegenüber den «eigenen, einheimischen Bürgern» spricht. Oder dann, wenn er, wie er es etwa in der SRF-«Sternstunde Philosophie» tat, davor warnt, zu den «eigenen» Gewalttätern nicht auch noch weitere «zu holen». Damit verschiebt er den Fokus von Gewalt auf «Herkunft». Relevant ist nicht der Mord, relevant ist der Stammbaum.

Ein bequemes Argument

Die Grenzziehungen bleiben vage und abstrakt: Der kriminelle Ausländer ist für Urbaniok mal der Asylbewerber, mal der seit drei Generationen eingebürgerte Deutsche mit türkischen Wurzeln. Letztlich bestimmen das eigene Vorurteil, Gefühle, Gutdünken, vor allem aber seine persönliche Erfahrung, die Urbaniok ins Feld führt, über die Einteilung in «Eigene» und «Fremde», in gute und schlechte «Ausländer:innen».

Für Urbaniok folgt aus all dem die Notwendigkeit, das Recht auf Asyl abzuschaffen. Dass es ihm nicht um Gewaltprävention oder Sicherheit geht, sondern schlicht um das autoritäre Begehren, bestimmen zu können, wer Teil einer Gesellschaft sein darf, gipfelt im «Gedankenexperiment», das Menschenrecht auf Staatsangehörigkeit an sich abzuschaffen: Ob es denn wirklich eine schlimme Strafe wäre, Gewalttätern die Staatsbürgerschaft entziehen zu können, fragt Urbaniok – etwa dem Terroristen Anders Breivik? Praktisch: Der Rechtsextreme wäre dann endlich auch so was wie ein krimineller Ausländer, die «einheimische» Gesellschaft von ihrem Makel befreit.

Dass die Medien Urbanioks politische Forderungen nun teilweise eins zu eins abdrucken, verrät viel darüber, wie einfach rechtes Influencertum ist: Der heroische Gestus des angeblich von Vernunft Getriebenen, die Behauptung, eine «unbequeme Wahrheit» auszusprechen und «die Fakten auf den Tisch» zu legen (eine Lieblingsformulierung Urbanioks), reichen für Titel wie «Urbaniok bricht ein Tabu» oder «Das heikle Buch» – obwohl nichts so etabliert ist wie das Reden über Ausländerkriminalität, nichts so bequem wie das Fordern von mehr Repression. An einer Stelle schreibt er: Für ihn seien die Statistiken keine Überraschung, und «ehrlich gesagt hätte ich selbst diese Zahlen gar nicht gebraucht». Man glaubt es ihm.