Sırrı Süreyya Önder: Adieu, Abgeordneter der Bäume!

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Er konnte gleichzeitig lachen und kämpfen, provozieren und trösten, scharf denken und warmherzig sprechen. Nun ist Sırrı Süreyya Önder tot. Der türkische Politiker, Drehbuchautor und Regisseur starb am 3. Mai in einem Istanbuler Spital an den Folgen eines Aortenrisses. Mit ihm verliert die Türkei eine ihrer bedeutendsten und eindringlichsten oppositionellen Stimmen. Eine Stimme, die zugleich witzig und weise, radikal und zärtlich war.

Geboren 1962 in Adıyaman im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei, wuchs Önder in einer turkmenischen Familie in einfachen Verhältnissen auf. Früh prallten in seinem Leben Gegensätze aufeinander: der sozialistische Vater, die religiös geprägte Mutter, das provinzielle Umfeld, die zentralistische Politik. Seine Kindheit war geprägt von Armut, Ungleichheit, politischen Spannungen und Repression – Erfahrungen, die später seine Kunst wie auch seine Politik prägen sollten. Mit sechzehn protestierte er gegen das an Alevit:innen verübte Pogrom von Maraş und wurde erstmals inhaftiert. Nach dem Militärputsch 1980 folgte eine zweite Verhaftung: Önder verbrachte sieben Jahre in Gefängnissen, wo er schwerster Folter ausgesetzt war.

Später verarbeitete er diese Erfahrungen in der Kunst. Beispielsweise in seiner 2006 erschienene Tragikomödie «Beynelmilel»: Eine Dorfkapelle soll beim Besuch des Militärs musizieren, spielt jedoch irrtümlich die sozialistische «Internationale», ohne die Bedeutung des Stücks zu kennen. Das Missverständnis führt zu Chaos, Verhaftungen – und einem stillen Protest gegen das Regime. Ein Szenario, das Önders Verständnis von Politik und Widerstand versinnbildlicht: Den politischen Umständen kann man nicht entkommen, wohl aber dem Widerstand eine lustvolle Form geben.

Zeit seines Lebens beschäftigte sich Önder mit Kunst, Poesie und Musik. Er spielte verschiedene Instrumente und schrieb Kolumnen. Dabei war er weit mehr ein politischer Mensch, der Kunst und Poesie liebte, als ein politischer Künstler. Önder verstand sich nicht nur als Vertreter einer politischen Bewegung, sondern auch als Vermittler. Er war ein Linker, der Konservative zu überzeugen vermochte, ein türkischer Unterstützer der Kurd:innen, eine Brücke zwischen intellektueller Elite und der breiten Bevölkerung.

Erst in den zehner Jahren wandte sich Önder der parlamentarischen Politik zu: 2011 zog er für die linke, prokurdische BDP ins türkische Parlament ein, später wurde er zu einer Schlüsselfigur der Nachfolgepartei HDP. Im Parlament konnten sich auch politische Gegner:innen kaum seinem Esprit, Charme und Schalk entziehen. Während der Gezi-Proteste, als er an vorderster Front gegen die Abholzung des Istanbuler Parks demonstrierte, bezeichnete er sich selbst als «Abgeordneter der Bäume».

2016 geriet er abermals ins Visier der Herrschenden – wegen angeblicher Terrorpropaganda im Zusammenhang mit Reden, die er als HDP-Abgeordneter gehalten hatte. Wie viele andere kurdische und oppositionelle Politiker:innen wurde auch Önder Opfer der Repressionswelle nach dem abgebrochenen Friedensprozess. Nach kurzer Haft wurde er wieder freigelassen, aber mit einer Ausreisesperre belegt. 2023 liess er sich erneut ins Parlament wählen, wo er aufgrund seiner Beliebtheit zum Vizepräsidenten der Versammlung gewählt wurde. Auch beim aktuellen Dialog zwischen dem türkischen Staat und der PKK spielte Önder eine zentrale Rolle. Mit seinem Tod verliert die türkische Politik einen wichtigen Vermittler und eine unersetzbare Integrationsfigur.

Als sich seine Tochter Ceren am Sonntag bei der Trauerfeier mit zittriger Stimme von Önder verabschiedete, sagte sie: Den Verlust ihres Vaters werde sie irgendwie verkraften. Den Verlust eines Freundes wegzustecken jedoch – das sei ein Ding der Unmöglichkeit.