Sırrı Süreyya Önder (1962–2025): Adieu, Abgeordneter der Bäume!
Die türkische Politik hat einen originellen Denker und wichtigen Vermittler verloren.

Er konnte gleichzeitig lachen und kämpfen, provozieren und trösten, scharf denken und warmherzig sprechen. Nun ist Sırrı Süreyya Önder tot. Der Politiker, Drehbuchautor und Regisseur starb am 3. Mai in Istanbul an den Folgen eines Aortenrisses. Mit ihm verliert die Türkei eine ihrer bedeutendsten und eindringlichsten oppositionellen Stimmen. Eine Stimme, die witzig und weise, radikal und zärtlich war.
Geboren 1962 in Adıyaman im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei, wuchs Önder in einer turkmenischen Familie in einfachen Verhältnissen und inmitten von Gegensätzen auf: sozialistischer Vater, religiös geprägte Mutter, provinzielles Umfeld, zentralistische Politik. Seine Kindheit war geprägt von Armut, Ungleichheit, politischen Spannungen und Repression – Erfahrungen, die seine Kunst wie auch seine Politik prägen sollten. Mit sechzehn protestierte er gegen das an Alevit:innen verübte Pogrom von Maraş und wurde erstmals inhaftiert. Nach dem Militärputsch 1980 folgte eine zweite Verhaftung: Önder verbrachte sieben Jahre in Gefängnissen, wo er schwerster Folter ausgesetzt war.
Später verarbeitete er diese Erfahrungen in der Kunst. So in seiner 2006 erschienenen Tragikomödie «Beynelmilel»: Eine Dorfkapelle spielt beim Besuch des Militärs irrtümlich die «Internationale», ohne die Bedeutung des Stücks zu kennen. Das Missverständnis führt zu Chaos, Verhaftungen – und einem stillen Protest gegen das Regime. Ein Szenario, das Önders Verständnis von Politik und Widerstand versinnbildlicht: Den politischen Umständen kann man nicht entkommen, wohl aber dem Widerstand eine lustvolle Form geben.
Zeit seines Lebens beschäftigte sich Önder mit Kunst, Poesie und Musik. Er spielte mehrere Instrumente und schrieb Kolumnen. Dabei war er weit mehr ein politischer Mensch, der Kunst und Poesie liebte, als ein politischer Künstler. Er verstand sich nicht nur als Vertreter einer politischen Bewegung, sondern auch als Vermittler. Er war ein Linker, der Konservative zu überzeugen vermochte, ein türkischer Unterstützer der Kurd:innen, eine Brücke zwischen intellektueller Elite und der breiten Bevölkerung.
2011 zog Önder für die linke, prokurdische BDP ins türkische Parlament ein, später wurde er zu einer Schlüsselfigur der Nachfolgepartei HDP. Im Parlament konnten sich auch politische Gegner:innen kaum seinem Esprit, Charme und Schalk entziehen. Während der Gezi-Proteste, als er an vorderster Front gegen die Abholzung des Istanbuler Parks demonstrierte, bezeichnete er sich selbst als «Abgeordneter der Bäume».
2016 geriet Önder erneut ins Visier der Herrschenden – wegen angeblicher Terrorpropaganda im Zusammenhang mit Reden, die er als HDP-Abgeordneter gehalten hatte. Wie viele kurdische und oppositionelle Politiker:innen wurde er Opfer der Repressionswelle nach dem abgebrochenen Friedensprozess. Nach kurzer Haft kam er frei, durfte aber nicht ins Ausland reisen. 2023 wurde er wieder ins Parlament gewählt und aufgrund seiner Beliebtheit auch zum Vizepräsidenten der Versammlung. Auch beim aktuellen Dialog zwischen dem türkischen Staat und der PKK spielte Önder eine zentrale Rolle. Mit seinem Tod verliert die türkische Politik einen wichtigen Vermittler und eine unersetzbare Integrationsfigur.
Als sich seine Tochter Ceren am Sonntag bei der Trauerfeier mit zittriger Stimme von Önder verabschiedete, sagte sie, den Verlust ihres Vaters werde sie irgendwie verkraften. Den Verlust eines Freundes wegzustecken jedoch – das sei ein Ding der Unmöglichkeit.