Invalidenversicherung: Die Grossbetriebe integrieren am wenigsten

Nr. 9 –

Bis in sechs Jahren muss die Wirtschaft für 17 000 IV-RentnerInnen Arbeitsplätze schaffen, sonst droht die Sanierung der Invalidenversicherung zu scheitern. Die Kleinunternehmen machen es vor, während die Grossunternehmen kneifen.

Die gute Nachricht zuerst: Es gibt UnternehmerInnen, die ihre soziale Verantwortung freiwillig wahrnehmen. Zum Beispiel André Tobler. Sein Handelsunternehmen vertreibt vom bernischen Ipsach aus Schutzbekleidung und beschäftigt fünfzehn MitarbeiterInnen, zwei davon sind ehemalige IV-Rentner. Beide haben inzwischen eine Festanstellung. Einer arbeitet im Lager und nimmt gerade eine Weiterbildung in Angriff, der andere ist im Verkauf beschäftigt. Drei Jahre dauerte ihre Integration in den Betrieb. Die IV Bern begleitete diesen Prozess eng.

Toblers Protecta AG geht mit gutem Beispiel voran. Das müssen in den nächsten Jahren viele Unternehmen, wenn die Sanierung der Invalidenversicherung bis 2025 gelingen soll. Ein Schritt ist die vom Parlament beschlossene IV-Revision 6a, die seit Anfang des Jahres in Kraft ist und dem Prinzip «Eingliederung statt Rente» folgt. 17 000 RentnerInnen sollen bis 2018 wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. Dann muss die Invalidenversicherung eine ausgeglichene Rechnung ausweisen, bis 2025 sollen die Schulden von fünfzehn Milliarden Franken getilgt sein. Ein ehrgeiziges Ziel. Die Linke im Parlament hatte die Unternehmen auf eine Quotenregelung verpflichten wollen, die Bürgerlichen schützten ihre Klientel und verhinderten es. Jetzt sind die SaniererInnen vom Goodwill der ArbeitgeberInnen abhängig. Etwas Vergangenheitsbewältigung täte gut: Was sind die wirklichen Ursachen für den Schuldenberg in der Invalidenversicherung, wer trägt dafür die Verantwortung?

Zückerchen für die Unternehmen

Der Druck und die Risiken dieser Sanierung lasten auf den IV-RentnerInnen und dem Staat. Die IV-Behörde hat seit 2008 für die Umsetzung der 5. und der 6. IV-Revision 300 zusätzliche Stellen geschaffen. RentnerInnen, die für die Eingliederung infrage kommen, sind zwar während dreier Jahre abgesichert. Verlieren sie während dieser Zeit ihre Stelle, lebt ihre Rente automatisch wieder auf. Doch nach dieser Übergangsfrist drohen sie bei erneutem Stellenverlust als Härtefälle zu enden. Sie können zwar wieder eine Rente beantragen, doch inzwischen sind die Kriterien dafür verschärft worden. «Dass dies Härtefälle produzieren wird, lässt sich nicht ausschliessen», sagt Martin Kalbermatten von der IV-Stellen-Konferenz.

Jene UnternehmerInnen, die sich gerne als risikofreudig darstellen, tragen hingegen nur ein geringes Risiko. Der Staat macht ihnen die Eingliederung von IV-RentnerInnen mit diversen finanziellen Anreizen schmackhaft, Zückerchen statt Verpflichtung: Beratungsleistungen durch die IV, finanzielle Unterstützung, in Arbeitsversuchen können sie RentnerInnen gratis testen, es gibt Einarbeitungszuschüsse und Entschädigungen für Beitragserhöhungen bei der beruflichen Vorsorge und der Krankentaggeldversicherung. Man könnte das auch bezahlte Freiwilligenarbeit nennen.

Sollten die Integrationsbemühungen fehlschlagen, hätte die Wirtschaft allerdings ein Imageproblem. Das hat sie ohnehin. Denn bislang sind die Beschäftigungsquoten von behinderten MitarbeiterInnen eher tief. Besonders schlecht schneiden Grossunternehmen ab. Eine Untersuchung der Stiftung Integration für alle aus dem Jahr 2008 förderte es zutage: Die Quote in Mikrobetrieben (bis 9 Beschäftigte) betrug 4,13 Prozent, bei Kleinbetrieben (bis 49 Mitarbeitende) 3,48 Prozent, Mittelbetriebe (bis 249 Beschäftigte) erreichten eine Quote von 3,8 Prozent und Grossbetriebe bloss eine von 1,25 Prozent. Das Schlusslicht im wirtschaftlichen Kraftzentrum Zürich bilden mit einem Behindertenanteil von gerade mal 0,39 Prozent die Grossbetriebe; sie haben damit eine erheblich tiefere Quote als der Bausektor mit seinen hohen körperlichen Anforderungen (2,75 Prozent). Der Anteil bei den potenten Finanz- und Versicherungsunternehmen ist gerade einmal halb so hoch wie im Bausektor.

Ein Ort des guten Beispiels

«Die Wirtschaft kann und muss hier zeigen, dass sie nicht einer egoistischen und kurzfristigen Gewinnmaximierung verpflichtet ist. Im Zentrum steht aus unserer Sicht eine wettbewerbsfähige, aber eben auch eine nachhaltige und sozialverträgliche Marktwirtschaft», sagt Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands. Und kritisiert die Finanz- und Versicherungsunternehmen. Sie müssten sich auf diesem Gebiet deutlich mehr engagieren. Er sagt das in der Lagerhalle der Protecta AG. Für den Start der Kampagne, die Unternehmen zur Anstellung von IV-RentnerInnen motivieren soll, haben die Spitzen des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) und der Arbeitgeberverbände diesen Ort des guten Beispiels gewählt. Arbeitgeberverbandspräsident Valentin Vogt ist da, Jean-Philippe Ruegger, Präsident der IV-Stelle-Konferenz, BSV-Direktor Yves Rossier und sein Stellvertreter Stefan Ritler.

Hans-Ulrich Bigler verteidigt die Klein- und Mittelunternehmen als in «hohem Mass sozialverantwortlich». Viele GewerblerInnen nähmen lieber einen finanziellen Verlust in Kauf, als in schwierigen Zeiten Mitarbeitende auf die Strasse zu stellen. Diese Grundhaltung komme auch bei schwerwiegenden Problemen der Mitarbeitenden zum Tragen. «Wo immer sinnvolle Lösungen möglich sind, helfen die KMU bei der Wiedereingliederung verunfallter oder erkrankter Angestellter.» Das entspricht der Stossrichtung der 5. IV-Revision – Eingliederung vor Rente. Diese Anstrengungen fruchten offenbar. Seit 2008 konnten IV und Unternehmen gemeinsam die dauerhafte Berentung von erkrankten MitarbeiterInnen in höherem Mass verhindern – durch eine Rückkehr an den alten Arbeitsplatz, durch Umplatzierungen oder Vermittlung an neue Unternehmen. Im Jahr 2007 lag die Zahl der von den IV-Stellen an die Unternehmen vermittelten Personen bei 5800. Im Jahr 2009 stieg sie auf gegen 9000, und im vergangenen Jahr waren es 11 530.

Auch Arbeitgeberverbandspräsident und Unternehmer Valentin Vogt weiss von zahlreichen Beispielen, unter anderem aus seinem Unternehmen. Auf Nachfrage erhält die WOZ noch am selben Nachmittag die Namen von vier Unternehmen, die sich um die Integration von MitarbeiterInnen bemühen. Auf die Kritik von Hans-Ulrich Bigler an den Grossunternehmen reagiert Valentin Vogt etwas säuerlich: «In absoluten Zahlen machen die Grossunternehmen mehr als die KMU.» Und er sei zuversichtlich, dass die 17 000 IV-RentnerInnen zurück in den ersten Arbeitsmarkt finden. In der Schweiz gibt es weit über 300 000 Unternehmen. Soll das Ziel erreicht werden, müssen jährlich 2800 RentnerInnen eine Stelle finden. «Das ist realistisch», sagt Vogt.

Wenn denn die Unternehmen mitmachen. Denn der Weg der Integration ist lang. Aber er lohne sich, sagt André Tobler, der Ipsacher Unternehmer. Der Mehraufwand sei zwar zunächst beträchtlich, aber dank der Begleitung durch die IV machbar. Und am Ende habe das ganze Team gewonnen – zwei neue «vollwertige Mitarbeiter» und an Sozialkompetenz.