Montenegro: Gräben und Verbundenheiten: Im Banne der Vergangenheit

Misstrauen und Angst vor der Zukunft prägen das Leben der Menschen im Norden Montenegros. Das machen sich einige Seiten kräftig zunutze.

Misstrauen und Angst vor der Zukunft prägen das Leben der Menschen im Norden Montenegros. Das machen sich einige Seiten kräftig zunutze.

Die montenegrinische Gesellschaft ist und bleibt tief gespalten. Daran ändert auch der Mitte März quasi über Nacht ins Leben gerufene neue Staatenbund «Serbien und Montenegro», den an die Stelle der Bundesrepublik Jugoslawien tritt, und der Aufschub der Entscheidung über eine Unabhängigkeit nichts. Den NostalgikerInnen des heroischen, unabhängigen Montenegro, das während Jahrhunderten der türkischen Herrschaft Widerstand geleistet hat, stehen nach wie vor die VerteidigerInnen der traditionellen Verbundenheit mit Serbien gegenüber.

Auch im Nordosten Montenegros, in der Kleinstadt Plav, sind die Positionen bezogen. Die Linien verlaufen im Grossen und Ganzen entlang der Gräben zwischen den verschiedenen Volksgruppen. Der Sekretär im Rathaus von Plav, Hakija Ljesnjanin, weiss genau, wie die Wahlberechtigten seiner Gemeinde jeweils wählen: «Plav hat 20 000 Einwohner. 22 Prozent sind Albaner: Für sie sind Urnengänge eine Art Volkszählung, was bedeutet, dass sie ihre Stimme albanischen Parteien geben. Dasselbe gilt für die 18 Prozent Orthodoxen, die sich manchmal als Serben und manchmal als Montenegriner bezeichnen: Sie wählen immer proserbische Parteien. Einzig die slawischen Muslime – in Plav rund 60 Prozent der Bevölkerung – geben ihre Stimme verschieden ausgerichteten Parteien: Einige wählen die Partei der Demokratischen Sozialisten (DSP) von Präsident Milo Djukanovic, andere die Sozialdemokraten (SDP), die noch stärker auf Unabhängigkeit pochen als der Präsident, oder die muslimische Partei SDA.» Der lokale Chef der SDA, Kemal Purisic, fügt hinzu, dass die grosse Mehrheit der slawischen Muslime – oder Bosniaken – für Djukanovic sei. «Sie glauben, dass Djukanovic ihren Schutz garantieren kann. Hier haben alle Angst vor einem Bürgerkrieg.»
Die Schulen und die Gesundheitsversorgung funktionieren im Norden Montenegros immer noch gut. Die montenegrinischen BosniakInnen geben gerne zu, dass sie keiner Diskriminierung seitens des Staates ausgesetzt sind, im Gegensatz zu den BosniakInnen im Süden Serbiens. Die Regierung Djukanovic hat sich offensichtlich entschieden, diese Volksgruppe zu unterstützen, was diese mit politischer Treue lohnt. Die Gemeinde Plav befindet sich am Rande des Sandschak, einer Region, die seit den Balkankriegen von 1912–1913 zwischen Serbien und Montenegro aufgeteilt ist. Im gesamten Sandschak stellen die Muslime rund 55 Prozent der Bevölkerung. Im serbischen Teil nennen sie sich Bosniaken und verlangen Autonomie oder gar die Abspaltung. Im montenegrinischen Sandschak hingegen versteht sich die Mehrheit als muslimische Montenegriner und unterstützt die Unabhängigkeit Montenegros. Der Identitätskonflikt macht auch vor den Moscheen nicht Halt. Auf serbischer Seite gibt es einen Mufti des Sandschak, dessen Rechtsprechung von montenegrinischen Muslimen nicht anerkannt wird. In Montenegro sind die Muslime dem Rais ul-Ulema unterstellt, der in der Hauptstadt Podgorica residiert. Dass die montenegrinischen Muslime Djukanovic unterstützen, stösst bei vielen proserbischen Orthodoxen auf harsche Kritik; sie erklären gerne und häufig, dass sich der Präsident nur dank den muslimischen und albanischen Minderheiten halten könne. Bozidar Bojovic, Chef der kleinen radikalen Gruppierung Nationale Serbische Partei (SNS), verstieg sich während des Wahlkampfs für die Parlamentswahlen im April 2001 sogar zur Behauptung, dass im Falle einer Unabhängigkeit Montenegros die Muslime das Ruder im Land übernehmen würden.

In Trauer vergraben

Murino, wenige Kilometer von Plav entfernt, ist ausschliesslich orthodox besiedelt. Hier gingen am 30. April 1999, während des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien, Bomben auf eine kleine Brücke nieder. Sechs Menschen wurden getötet, darunter zwei Jugendliche. Die DorfbewohnerInnen vergraben sich bis heute in Trauer und Bitterkeit. In Murino gibt es nur ein Café. Geführt wird es von Vesna Kapic, deren Mann die Räume mit Bildern des früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic geschmückt hat. Über der Theke hängt ein Plakat mit der Aufschrift «Milosevic, komm zurück!». «Jugoslawien oder Staatenbund Serbien und Montenegro – der Name ist unwichtig», sagt Vesna. «Wichtig ist, dass wir verbunden bleiben. Montenegro ist serbischer Boden.» Die von der Nato zerstörte Brücke ist wieder aufgebaut. Doch die Häuser der Umgebung weisen nach wie vor Spuren der Tragödie auf. «Wir haben keinen einzigen Dinar für die Renovation erhalten», empört sich Vesna. Sie solle still sein, mischt sich ein Kunde ein. «Unser Staat hat gezahlt, was er konnte.» «Nein», erwidert Vesna, «unser Staat hat uns bestohlen. Wir leben elend, aber wir sind trotzdem für Jugoslawien.»
Die Nato-Bomben haben auch das Haus von Kosa Vojnovic, einer siebzigjährigen Frau, teilweise zerstört. Kosa ist allein, ihr Sohn lebt in Belgrad, ihre Tochter in Plav. Kosa wurde im Kosovo geboren, von wo sie und ihre Eltern im Zweiten Weltkrieg von albanischen Nationalisten vertrieben wurden. Kosa kennt keinen Hass, lebt aber in dauernder Angst: «In der Nachbarschaft in Plav, wo meine Tochter wohnt, sind nur fünf Häuser von Orthodoxen bewohnt. Die Muslime könnten sie jederzeit töten. Gibt es Krieg, dann wird es schlimmer als 1941.» 1941, das ist die Chiffre für den Beginn des Zweiten Weltkriegs auf dem Balkan und für all die Gräuel, welche er nach sich zog. Bis heute nährt dieser Krieg die Ängste, und Ressentiments der Menschen. Die Menschen in Murino unterstützten damals mehrheitlich die Partisanen Titos – im Unterschied zum orthodoxen Nachbardorf Andrijevica, das eher dem Lager der Tschetniks, der serbischen Nationalisten, zuneigte. Dieser Unterschied wirkt auch heute noch nach. Murino lebt in der Nostalgie des «Grossjugoslawien», während man sich in Andrijevica mit einem Grossserbien, das Montenegro einschliesst, zufrieden gäbe.

Clans und Folklore

Die Orthodoxen der Region gehören fast alle zum grossen Clan der Vasojevici. Montenegro ist im Grunde eine Stammesgesellschaft, in der der Clan nach wie vor das politische Stimm- und Wahlverhalten bestimmt. Im Süden sind die Clans des «alten Montenegro» mehrheitlich für die Unabhängigkeit, während die Vasojevici die proserbische oder projugoslawische Option verteidigen. Die Volkssozialisten (SNP), die wichtigste Formation der projugoslawischen Opposition und Begründerin der Koalition «Zusammen für Jugoslawien», setzen genau auf diese Karte. Seit 1999 haben sie regelmässig Stammesversammlungen einberufen, die sich jeweils für die Erhaltung des gemeinsamen Staates aussprachen. Der Politologe Milan Popovic, selber Angehöriger des proserbischen Clans der Kuci, persönlich aber für die Unabhängigkeit, ist solchen Kundgebungen gegenüber sehr kritisch. Er bezeichnet sie als eine groteske Mischung von prämodernen historischen Formen und moderner Politik, die dazu benutzt werde, vom wiederholten Misserfolg der Volkssozialisten abzulenken. Die Folklore werde zu politischen Zwecken missbraucht. Über mangelndes Interesse an solchen Kundgebungen können sich die Veranstalter aber kaum beklagen. In Murino oder Andrijevica geht es immer dann besonders hoch zu und her, wenn sich die Menschen am Abend versammeln, um Gusla-Spielern zuzuhören, die in Begleitung ihres traditionellen Saiteninstruments serbische Heldenlieder zum Besten geben.
Wirtschaftlich befindet sich der Norden Montenegros in einer katastrophalen Lage. Das Elend ist wahrscheinlich der wichtigste gemeinsame Nenner aller Bevölkerungsgruppen dieser Region. Gemäss Statistiken der Stadtverwaltung von Plav sind 93 Prozent der Bevölkerung arbeitslos. Eingangs der Stadt steht das grösste Industriegebäude der Stadt leer und verlassen. Das Werk stellte Ersatzteile für die Kühlschrank- und Waschmaschinenfabrik Obod in Cetinje im Süden des Landes her, die ihrerseits vorläufig stillgelegt ist. Dennoch beherbergt Plav nach wie vor mehr als 1600 Flüchtlinge: Kosovo-SerbInnen, BosniakInnen aus dem Kosovo und vor allem aus Bosnien-Herzegowina, die auch sieben Jahre nach Ende des Krieges nicht zurückkönnen. Einige von ihnen wohnen im einzigen Hotel der Stadt über dem See: einer Naturschönheit, die in einer schon weit entfernt scheinenden Vergangenheit viele TouristInnen anzog.

Isolation und Exil

Plav ist vom Rest des Landes isoliert. Besonders spüren dies die muslimischen SlawInnen und die AlbanerInnen, da die einzige Strasse, die die Region mit dem Rest des Landes verbindet, durch orthodoxes Gebiet führt. Hoch über das nahe Gusinje, auf 2600 Meter Höhe, ragen die Gipfel der Verfluchten Berge, welche die Grenze zu Albanien bilden. Früher waren Plav und der nahe kleine Marktflecken Gusinje Etappenorte für die Karawanen auf dem Weg zwischen der Hafenstadt Dubrovnik und Istanbul. Heute existiert zwar ein Projekt für eine direkte Verbindung zwischen Plav und der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica, aber diese Achse würde Albanien durchqueren, und Belgrad hat sich bisher der Öffnung dieser seit 1918 geschlossenen Grenze widersetzt. Vielen schien das Exil der einzige Ausweg. Allein in New York leben 25000 Menschen, die aus Plav stammen.
«Die Menschen leben seit Jahrhunderten zusammen, aber jeder beharrt auf seiner Identität, auf den Unterschieden gegenüber dem anderen», sagt der Französischprofessor Dusica Matic über die nordmontenegrinische Gesellschaft. «Der Norden ist ein Pulverfass. Wenn die Verhandlungen über die künftige Staatsform scheitern, braucht es nur noch sehr wenig, bis die ganze Region in Flammen steht.» Die Erinnerung an die Massaker in den Balkankriegen der Jahre 1912–1913 und im Zweiten Weltkrieg sind immer noch lebendig, und alle glauben an eine Bedrohung durch die andere Volksgruppe. «Was in den politischen Debatten zum Vorschein kommt, ist nichts anderes als der Ausdruck von Ängsten und Frustrationen jeder Volksgemeinschaft», sagt Rasim Gacevic, Präsident der lokalen Sektion der Liberalen, die sich radikal für die Abspaltung von Serbien einsetzen.
Noch vor zwei Jahren schien Montenegro kurz vor der Unabhängigkeit zu stehen. Doch die internen Spaltungen und Widersprüche der montenegrinischen Gesellschaft haben diesen Sprung ins Unbekannte verhindert. Auch die Lokalwahlen vom 15. Mai haben keine wesentlichen Veränderungen der Kräfteverhältnisse gebracht. Die Koalition um Djukanovic ist zwar gestärkt daraus hervorgegangen, ist aber nach wie vor tief gespalten. Die projugoslawische Opposition spürt nach dem Abkommen über den neuen Staatenbund einigen Aufwind, kann sich aber nicht durchsetzen. Das aktuelle Dilemma Montenegros lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein klarer Kurs Richtung Unabhängigkeit ist unmöglich, gleichzeitig lassen die Frustrationen, die durch die Aufrechterhaltung des Status quo entstehen, das Schlimmste befürchten. Diese Frustrationen sind auch wirtschaftlicher Natur. Und das Abkommen von Belgrad mit all seinen Unklarheiten, Widersprüchen und der Zementierung des Status quo ist einer Gesundung der Wirtschaft nicht gerade förderlich.