Armutsdefinitionen: Working Poor – die feinen Unterschiede

Das wissenschaftliche Aushandeln ausgeklügelter Armutsdefinitionen könnte als ExpertInnengezänk abgetan werden, würde damit nicht Politik gemacht: Solche Definitionen liefern dem Staat die Raster für die Verteilung der Sozialleistungen. Je nach Definition gibt es mehr oder weniger Arme, besonders oder weniger unterstützungswürdige Arme. Und je nach Definition wird die Geschlechterfrage verdrängt.

In den USA und zunehmend auch in England wird beispielsweise die Unterscheidung zwischen erwerbstätigen Armen und nicht erwerbstätigen Armen durch neue Sozialhilferegelungen zementiert. Diese Aufteilung gilt auch für Personen, vorwiegend Frauen, die eine grosse Menge unbezahlter Betreuungsarbeit leisten. Der Staat soll - so das Credo eines Tony Blair - nicht in erster Linie Armut lindern, sondern die Ausgrenzung der Armen mit gezielter Integration in den Arbeitsmarkt bekämpfen; «from welfare to workfare» heisst der entsprechende Slogan. In stark deregulierten Arbeitsmärkten wie in den USA bedeutet das: Menschen mit niederen Einkommen mussten im letzten Jahrzehnt immer länger arbeiten, um überhaupt ihr Überleben finanzieren zu können. Laut einer OECD-Studie gehören in den USA knapp vierzig Prozent der fest angestellten unqualifizierten Arbeitskräfte zu den Working Poor, in der noch stärker regulierten EU sind es zwanzig Prozent.

Aus linker Optik ist die Workfare-Idee auch Bestandteil der Wirtschaftspolitik - aber mit anderen Schlussfolgerungen. Der Schweizer Gewerkschafter Andreas Rieger hat es kürzlich an einer Pressekonferenz der Dienstleistungsgewerkschaft Unia klar ausgesprochen: «Wer Löhne unter 3000 Franken zahlt, zockt beim Staat ab.» Allzu niedrige Löhne führen nämlich Erwerbstätige spätestens bei Arbeitslosigkeit oder Pensionierung in die Abhängigkeit von Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen.

Tiefe Löhne sind Frauenlöhne

Laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung von 1998 verdienten 499 000 Erwerbstätige - 15 Prozent aller Lohnabhängigen - einen Bruttostundenlohn von unter 20 Franken, was bei einer 42-Stunden-Woche und bei bezahlten Ferien monatlichen Bruttolöhnen von bis zu 3650 Franken oder netto 3250 Franken entspricht. 166 000 ArbeitnehmerInnen respektive 5,6 Prozent verdienten nur bis zu 15 Franken pro Stunde (brutto 2750 monatlich, netto 2450). Rund drei Viertel der ArbeitnehmerInnen mit einem Stundenlohn unter 20 Franken sind Frauen. Umgekehrt sieht es bei den hohen Löhnen aus: Vier Fünftel der 356 000 Lohnabhängigen, welche brutto mehr als 45 Franken (rund 8200 monatlich) verdienen, sind Männer. Nicht enthalten in dieser Statistik sind etliche Kategorien von Erwerbstätigen mit überdurchschnittlich tiefen Einkommen: Lehrlinge und Lehrtöchter, SaisonarbeiterInnen, Asylsuchende, GrenzgängerInnen, selbständig Erwerbende und SchwarzarbeiterInnen. Wie der Genfer Wirtschaftsprofessor Yves Flückiger an einem Seminar des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) Anfang November betonte, gibt es bei den selbständig Erwerbstätigen anteilsmässig mehr niedrige Einkommen als bei den Lohnabhängigen. Seit 1991 hat sich laut Flückiger die Zweiteilung der Einkommen der Selbständigen in hohe und niedrige verstärkt. Dies dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sich vermehrt entlassene ArbeitnehmerInnen selbständig zu machen versuchen. Auch da sind Frauen bedeutend schlechter dran als Männer. Der SGB fordert einen minimalen Nettolohn von monatlich 3000 Franken, was etwa einem Bruttolohn von 3450 Franken oder rund 18.50 Franken pro Stunde entspricht. Im Jahr 1995 lagen die Löhne für alle Branchen in der Schweiz für 22 Prozent der erwerbstätigen Frauen und für 7 Prozent der Männer unter 3000 Franken netto pro Monat; 13 Prozent der Frauen und 4 Prozent der Männer verdienten netto weniger als 2500 Franken. (In dieser Berechnung ist die Entlöhnung von Teilzeitstellen in Monatslöhne umgerechnet worden.) Nun gibt es aber eigentliche Tief(st)lohnbranchen, beispielsweise das Gastgewerbe und der Detailhandel. Unia präsentierte letzte Woche eine Studie von Tobias Bauer vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass): Im Gastgewerbe verdienten 41 Prozent der Frauen und 23 Prozent der Männer weniger als den vom SGB geforderten Mindestlohn. In den Verkaufsabteilungen des Detailhandels lagen die entsprechenden Anteile sogar bei 49,2, respektive 15,5 Prozenten. Bei einer genaueren Analyse der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern kommt Bauer zu erstaunlichen Ergebnissen:

• Der Anteil der ungelernten Männer mit Tieflöhnen ist beträchtlich höher als der Anteil der ausgebildeten. Bei Frauen trifft dies weit weniger zu. Wie Corinne Schärer, die Zentralsekretärin von Unia, betonte, hilft Ausbildung Frauen kaum, der «Gefahr der nicht existenzsichernden Entlöhnung» zu entrinnen. Der Anteil der Tieflöhne bei gelernten Frauen ist vergleichbar mit demjenigen bei ungelernten Männern.

• Auch die Anzahl der Dienstjahre bringt den Frauen wesentlich weniger Lohnerhöhungen als den Männern.

• Im Unterschied zu Männern verdienen Frauen kaum besser, wenn sie anstatt Teilzeit Vollzeit erwerbstätig sind.

Die niederen Frauenlöhne können also nicht mit dem Mängelwesen Frau begründet werden, die sich zu wenig um ihre Ausbildung kümmert, nur Teilzeit arbeitet, die Erwerbsarbeit unterbricht, weil sie, wie es ÖkonomInnen heutzutage zu formulieren pflegen, ihr Humankapital vernachlässigen würde.

Armer klassischer Ernährer

Sexistisch strukturiert sind aber nicht nur die Arbeitsmärkte, sondern auch die Denkweisen, welche in der Regel hinter den Definitionen von Working Poor stecken: Vorstellungen darüber, wozu Menschen unbedingt Geld brauchen und wie lange sie dafür erwerbsarbeiten sollen, wie ein Normalhaushalt aussieht, welche Rolle die Frauen darin spielen. Ob Menschen zur Kategorie der Armen gehören, wird in der Regel aufgrund der Einkommenslage von Haushalten beurteilt. Nach Ansätzen der AHV und IV für Ergänzungsleistungen liegt ein existenzminimaler Betrag für eine allein lebende Person bei netto 2500 Franken monatlich, was ungefähr einem Bruttolohn von 2850 Franken oder einem Bruttostundenlohn von gut 15 Franken entspricht. Die von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) festgelegte und von den Kantonen als Richtlinie benutzte Armutsgrenze für eine allein stehende Person liegt gegenwärtig bei monatlichen Ausgaben von 1800 bis 2000 Franken (1055 bis 1165 Franken Grundbedarf plus Mietzins und Krankenkassenprämien), zu dessen Deckung ein Bruttolohn von rund 2000 bis 2200 Franken nötig wäre (10 bis 12 Franken Stundenlohn). Problematisch für Feministinnen wird das Konzept des Haushalts als ökonomische Einheit, sobald mehrere Personen zusammenleben oder wenn allein stehende Frauen Kinder haben.

Ein Paarhaushalt ist nach den meisten Definitionen kein armer Haushalt, auch wenn beide Personen in ihren Vollerwerbsjobs netto nur je lausige 2000 Franken monatlich verdienen. Ihr Haushalteinkommen liegt höher als das von der SKOS für einen Zweipersonenhaushalt vorgesehene Existenzminimum. Wenn beide PartnerInnen Teilzeit arbeiten und je nur 1250 Franken verdienen, dann sind sie zwar nach SKOS arm, aber nach der Definition der so genannten nationalen Armutsstudie des Berners Wirtschaftsprofessors Robert E. Leu keine Working Poor, weil dazu in einem armen Haushalt mindestens eine zu 90 Prozenten erwerbstätige Person leben muss. Würde ein Ehemann 4500 Franken verdienen und seine Frau in einem Vollzeitjob 1800 Franken, dann wäre Letztere trotzdem keine Working Poor, weil sie nicht allein lebt. Leus Definition von erwerbstätigen Armen geht von der Vorstellung aus, dass ein voller Ernährerlohn für die Existenzsicherung einer Familie ausreichen sollte und mindestens ein Mitglied im Haushalt zu 90 Prozenten erwerbstätig ist - die klassische Ernährerfamilie. Wie viel Erwerbsarbeit braucht es?

Andere ArmutsforscherInnen nehmen ein minimales Arbeitspensum von 30 Stunden pro Woche als Ausgangspunkt ihrer Berechnungen. Anna Liechti und Carlo Knöpfel schlagen in einer Studie der Caritas vor, dass das Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit mit einem Beschäftigungsgrad von insgesamt 90 Prozent - unabhängig davon, wie sich die Erwerbsarbeit prozentual auf die Haushaltsmitglieder verteilt - zur Existenzsicherung eines Haushalts ausreichen sollte. Der Genfer Ökonom Flückiger verwendet nochmals eine andere Definition, welche in der EU für Ländervergleiche üblich ist: Zu den Working Poor gehören jene Menschen, für die das Lohneinkommen die wichtigste Quelle des Haushalteinkommens darstellt und deren Löhne unter der Hälfte des Medians liegen (die Hälfte der ArbeitnehmerInnen verdient mehr, die andere Hälfte weniger). In der Schweiz lag dieser Betrag 1998 für die voll Erwerbstätigen bei einem Bruttolohn von 2750 Franken. Definitionen, welche am Lohnniveau und nicht am Haushaltseinkommen ansetzen, haben den Vorteil, dass sich die komplizierten Überlegungen erübrigen, ab wie viel Wochenstunden Erwerbstätigkeit Arme erwerbstätige Arme sind. Auf jeden Fall steckt in den Definitionen, wer zu den Working Poor gehört und ab wann Löhne Tieflöhne sind, ein Urteil darüber, wie viele Stunden Erwerbsarbeit einem Mensch zugemutet werden, soll er sein finanzielles Überleben sichern können. Aber bedeutet ein bestimmter Tieflohn für alle die gleiche Zumutung? Wie steht es beispielsweise bei Eltern mit finanziellen Verpflichtungen für Kinder und für Mütter mit einem hohen Aufwand an unbezahlter Betreuungsarbeit? Im Jahr 1998 hatten 28,5 Prozent der Frauen mit Kindern unter 15 Jahren einen Stundenlohn unter 20 Franken. Bei Arbeitnehmerinnen ohne Kinder unter 15 Jahren betrug dieser Anteil jedoch «nur» 23,3 Prozente. Gerade umgekehrt sieht es bei den Männerlöhnen aus: Nur 3 Prozent der Männer mit Kindern unter 15 hatten Stundenlöhne unter 20 Franken, für die andern Männer war dies bei 9 Prozent der Fall.

Aus feministischer Sicht sind die aktuellen Debatten über Working Poor also mit sehr viel Skepsis zu geniessen. Armutsdefinitionen verdecken, wenn sie sich an Haushalteinkommen orientieren, die Diskriminierung der Frauen am Arbeitsplatz und verharmlosen das Einkommens- und damit das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen in Haushalten. Die Thematisierung von Tieflöhnen wäre wichtig und frauenpolitisch weniger ambivalent als das Reden über Working Poor. In der Schweiz ist zudem im Vergleich zur EU der Anteil der Working Poor an den Armen doppelt so hoch (70 Prozent) - noch ein Grund mehr, sich gegen Tieflöhne und für Minimallohnregelungen einzusetzen, vorausgesetzt sie sind hoch genug und gelten für alle Anstellungsverhältnisse.