Care Economy und die Kostenexplosion im Gesundheitsbereich: Die Ökonomisierung des Sozialen

Eine defekte Maschine ist billiger zu reparieren als ein defekter Mensch. Letzterer benötigt neben Ersatzteilen auch Beziehungsarbeit. Sie ist immer mehr eine gesundheitsökonomische Zumutung.

An kapitalismuskritischen Veranstaltungen habe ich häufig den Eindruck, ein Rauschen von oft Gesagtem zu hören. Sicher ist es wichtig, die Akkumulations- und Machtdynamik des Kapitalismus und insbesondere des Finanzsystems oder die Auswirkungen neuer Technologien zu verstehen. Dies ist unumgänglich, um den gängigen wirtschaftspolitischen Debatten zu folgen, gibt aber keine Hinweise darauf, wie eine alternative Wirtschaftspolitik aussehen könnte und worauf es aus der Sicht «von unten» ankäme. Ausgangspunkt einer alternativen Wirtschaftstheorie und -politik muss meiner Ansicht nach die Ökonomie des Alltagslebens und ein neues Verständnis von Wohlfahrtsökonomie sein. Ein Aspekt davon ist die so genannte «Care economy» und – allgemeiner gesagt – eine Vorstellung von der Zeitökonomie der Frauen (siehe WoZ Nr. 03/2001 ).

Die besondere Logik der Care-Ökonomie

In der Wirtschaftstheorie gibt es eine Kategorie von Gütern und Dienstleistungen, die einen Sonderstatus haben: die öffentlichen. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die wichtig für die Grundversorgung sind und auch Personen zugänglich sein müssen, die nicht dafür bezahlen können. Dazu gehören im Weiteren auch Leistungen und Güter wie beispielsweise die Vernetzung im Internet oder saubere Luft, für die niemand individuell bezahlen will, da deren Existenz andern auch ohne Bezahlung zugute kommt.

Die australische Ökonomin Susan Donath erinnert in einem neulich erschienenen Artikel an die Besonderheit der Care-Ökonomie, dass deren Arbeitsproduktivität nur in engen Grenzen erhöht werden kann («Feminist Economics» Nr. 03/2000). Schon 1967 hat der bekannte Wirtschaftstheoretiker William Baumol mit grosser Weitsicht herausgearbeitet, was dies bedeutet. Baumol kam aufgrund seiner Analysen zum Schluss, dass Tätigkeiten, die der persönlichen Versorgung von Menschen dienen, angesichts des technischen Fortschritts in den anderen Sektoren relativ gesehen immer teurer werden würden. Aus einem etwas anderen Blickwinkel hat Robert B. Reich, der frühere Arbeitsminister der Clinton-Administration, in seinem Buch «The Work of Nations» (1991) auf das gleiche Problem hingewiesen. Reich sieht im Auseinanderdriften der Arbeitsproduktivität zwischen personenbezogenen und lokal gebundenen Dienstleistungen einerseits und der «Wissensarbeit» der Weltmarktelite andererseits eine Ursache für neue Klassenpolarisierungen.

Bezogen auf die Care-Ökonomie lässt sich im Sinne Baumols die so genannte Kostenexplosion im Gesundheitswesen mindestens zum Teil auf ein Wahrnehmungs- respektive ein Preisstrukturproblem reduzieren. Diese Kosten werden verglichen mit jenen in Wirtschaftsbereichen, in denen es rasante technische Fortschritte gegeben hat. Baumol selbst war optimistisch bezüglich der Konsequenzen der von ihm analysierten Entwicklung. Er hoffte, dass der Lebensstandard trotzdem generell steigen werde. Da die Leute bedeutend weniger für Autos und Ähnliches bezahlen müssten, könnten sie mehr für ihre Gesundheit ausgeben, und durchschnittlich gehe es ihnen besser, war Baumols Sicht.

Aspekte wie die einseitige Zuständigkeit von Frauen für die Sorge für andere liess er dabei ausser Acht, ebenso die ungleiche Einkommensverteilung zwischen den Geschlechtern und Klassen, die ungleiche Verteilung der unbezahlten und bezahlten Arbeit sowie die Tatsache, dass persönliche Dienstleistungen nur beschränkt verfügbar, nicht beliebig austauschbar und örtlich gebunden sind.

Die gängigen Wirtschaftsdebatten werden genau besehen nach wie vor weitgehend in Baumols Optik geführt – auch unter ÖkonomInnen der SP und der Gewerkschaften. Auf solchen Annahmen beruht auch die optimistische Zukunftsperspektive, es gäbe – entgegen verbreiteter Besorgnis – keine Krise der Erwerbsarbeitsgesellschaft, es sei nur erforderlich, die Leute besser auszubilden. Aber auch eine bestens ausgebildete Ärztin kann nur eine gute Ärztin sein, wenn sie genügend Zeit für die Behandlung ihrer PatientInnen hat.

Auf andere Bereiche bezogen: Auch modernste Forschungs- und Finanzzentren brauchen Dienstpersonal, das für Sauberkeit im Computerpark und für die Ernährung der WissensarbeiterInnen sorgt. Die Krise der Erwerbsarbeitsgesellschaft besteht nicht darin, dass die Erwerbsarbeit wegen der neuen Technologien ausgeht. Sie besteht darin, dass die Arbeitsproduktivität in den verschiedenen Sektoren rasant auseinanderdriftet und mit ihr die Höhe der Arbeitseinkommen und die Profitabilität von Investitionen.

Die Rationierung der Care-Zeit

Der Neoliberalismus kann als Versuch gesehen werden, die Produktivitätsgrenzen der Care-Ökonomie zu sprengen, das Soziale im wahrsten kapitalistischen Sinn des Wortes zu ökonomisieren. Im staatlichen und privatwirtschaftlichen Gesundheits- und Sozialwesen wird gegenwärtig versucht, die Care-Ökonomie effizienter zu gestalten, um Kosten zu sparen. Wie aber soll gespart werden? Ein wesentlicher Versuch, im Gesundheitswesen zu sparen, liegt darin, die Arbeitsvorgänge von ÄrztInnen und Pflegenden akribisch in verschiedene Tätigkeiten aufzusplittern und in qualifizierte gut bezahlte und unqualifizierte schlecht bezahlte zu hierarchisieren. Es ist ein Versuch, die arbeitsteiligen Methoden der Umwandlung von handwerklichen Arbeitsweisen in industrielle zu kopieren.

Bei der Reorganisation von Spitälern und bei der spitalexternen Krankenpflege (Spitex) wird deutlich, worum es geht: ÄrztInnen und Krankenschwestern sollen die Krankheit behandeln, das billigere Hilfspersonal – oder im Fall der Spitex Haushaltshilfen, Freiwillige oder Angehörige – soll die Kranken bedienen. Ihre Aufgabe ist es, zu putzen, die Mahlzeiten zuzubereiten und zu servieren sowie mit den Kranken zu reden. Die medizinische Behandlung – auch der psychosomatischen Aspekte – wird standardisiert, die alltägliche Beziehungs- und Versorgungsarbeit disqualifiziert und rationiert.

Der internationale Vergleich von Gesundheitsmodellen zeigt jedoch, dass die Kosteneinsparungsmöglichkeiten trotz allen Beschränkungen, trotz relativ niedrigen Löhnen und zunehmender Beschäftigung von diskriminierten MigrantInnen im Spitalbereich, trotz Freiwilligenarbeit, trotz kürzeren Spitalaufenthalten und anderen Massnahmen sehr begrenzt sind. Die Alternative zu dieser Art der Kostendämpfung ist, die Gesundheitsversorgung für eine ausreichend grosse Bevölkerungsgruppe einzuschränken – beliebt sind in solchen Planspielen die Alten.

Neue Berufsbilder, neue Krankheiten

Wer Behandlungstarife neu gestaltet, initiiert die Entstehung einer neuen Medizin mit neuen Krankheitsbildern und Behandlungsidealen. Im Vordergrund steht aktuell die Abschaffung der traditionellen Helferrolle von ÄrztInnen und des Pflegepersonals. An ihre Stelle soll die Eigenverantwortung der PatientInnen treten. So emanzipatorisch das für alle Beteiligten klingt: Damit soll primär Beziehungsarbeit aus dem Erwerbsbereich ausgespart werden.

Worin besteht beispielsweise die Leistung von ÄrztInnen? Der 1883 geborene Berner Arzt und Psychiater Jakob Kläsi sah sich noch als «ein Wissenschafter, ein Krieger, ein Erbarmer, ein Erzieher, ein Priester und ein Künstler». Ein bisschen weniger pathetisch und paternalistisch erklärte Franz Nager, ehemaliger Chefarzt am Kantonsspital Luzern, noch 1996, der ärztliche Beruf sei charakterisiert durch «Wissenschaft, Handwerk, Geschäft, Liebestätigkeit und Kunst». In der Gesundheitsökonomie dagegen ist die Rede von «Anbieterdominanz der Leistungserbringer», die «zugunsten der Kunden und ihrer Vertreter korrigiert» werden soll (NZZ 29./30.4.00). In der Gesundheitsökonomie wird fast nur in Kategorien der Gesundheitsindustrie und von Ärzten gedacht, die gerne die teuerste Technik anwenden, geldgierig und karrieresüchtig sind, die bei der Wahl der Technik sozusagen staatlich vor Wettbewerb geschützt die Krankenkassen allzu sehr zur Kasse bitten. Andere Berufstätige wie Krankenschwestern oder PhysiotherapeutInnen kommen als AkteurInnen gar nicht vor. Selten ist von PatientInnen die Rede und wenn, dann allenfalls davon, dass sie in Todesängsten alle möglichen technischen Schikanen konsumieren wollen, auch wenn sie steinalt sind und am Schluss doch sterben. Die Kostenexplosion wird heute wesentlich als dem Gesundheitssystem innewohnende Problematik irrationaler Verwendung ökonomischer Ressourcen und irrationaler Entscheidungsprozesse gesehen. Ganz andere Grössenordnungen

Ganz andere Grössenordnungen

Nicht in diese Sicht der Dinge passt die Beobachtung des Gesundheitsökonomen Jürg H. Sommer. Nach Sommer gehen rund drei Viertel der sich krank fühlenden Personen trotzdem nicht zu ihrem Arzt oder zu ihrer Ärztin, sondern helfen sich selbst. Was dies bedeutet, illustriert Sommer mit folgender Untersuchung aus den USA: Wenn nur zwei Prozent der AmerikanerInnen, die sich krank fühlen, Selbstmedikation betreiben und auf medizinische Konsultation verzichten, stattdessen ihre ÄrztInnen aufsuchen würden, müsste sich die Zahl der GrundversorgerInnen in den USA um 50 Prozent erhöhen (Jürg H. Sommer: «Gesundheitssystem zwischen Plan und Markt». 1999). Geringfügige Verhaltensänderungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen haben enorme Auswirkungen auf die Kapazitäten und die Kosten des Gesundheitswesens. Aber auch diese Feststellung greift noch zu kurz.

Sie verleitet dazu, die Krise des Gesundheitssystems durch Verhaltensänderungen entschärfen zu wollen. Dabei wird aber etwas Entscheidendes übersehen. Wenn ich krank bin, kann ich im Bett bleiben, Medikamente schlucken oder so genannte Hausmittel anwenden. Weniger einfach aber ist es, einkaufen zu gehen oder für mich selbst zu kochen.

Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen nun mal zeitweise krank werden und von anderen Unterstützung brauchen und, egal in welchem Alter sie sterben, vor dem Tod durchschnittlich zwischen ein und zwei Jahren unterstützungsbedürftig sind, dann bekommt die Kostenexplosion im Gesundheitswesen nochmals eine ganz andere Dimension.

Laut einer Untersuchung, die im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann und vom Bundesamt für Gesundheit 1997 herausgegeben wurde («Geschlecht und Gesundheit nach 40»), leisten Frauen mehr unbezahlte Hilfe für andere, als sie selbst erhalten. Während die Männer weitgehend auf die unbezahlte pflegerische und versorgende Unterstützung durch die Ehefrau zählen können, sind ältere Frauen, die meist länger leben als der Ehemann, bei Altersschwäche und Krankheit stärker auf Unterstützung von aussen angewiesen. Bei der Spitex wird nun aber unterschieden zwischen medizinischen Diensten, die von den Krankenkassen grundversichert sind, und «Hoteldiensten» wie Kochen, Putzen und Waschen, die die Kranken selbst bezahlen müssen. Von Gesprächen schon gar nicht zu reden. Frauen, die als Ehefrauen/Freundinnen, Mütter und teilweise als Töchter und Schwiegertöchter solche Dienste meist in aller Selbstverständlichkeit übernehmen, riskieren, im Alter selbst auf teure und streng rationierte Hilfe von aussen angewiesen zu sein.

Die sozialen und ökonomischen Auswirkungen dieser willkürlichen, aber für die Krankenkassen kostengünstigen Unterscheidung trifft vor allem die Frauen. Als Betagte einerseits, aber auch als Erwerbstätige in Pflegeberufen, wo sie überdurchschnittlich vertreten sind und wo ihnen die Arbeit mit irrwitzigen Zeitberechnungen und Leistungskontrollen zunehmend vermiest wird.

Als provisorisches Fazit lässt sich feststellen: Verglichen mit den Grössenordnungen und den ökonomischen Fragen, die Veränderungen beim Volumen der unbezahlten Arbeit von Frauen aufwerfen, ist die relative Kostenexplosion im Gesundheitswesen ein kleines ökonomisches Problem.

Nachtrag von 11. November 2010 : Frauen leisten mehr

So richtig nachvollziehbar ist es nicht: Wenn eine alleinstehende Person ins Spital muss, bezahlt sie zehn Franken im Tag für die «Kos­ten des Aufenthalts». Landen jedoch Menschen, «welche mit einer oder mehreren Personen, mit denen sie in einer familienrechtlichen Beziehung stehen, in gemeinsamem Haushalt leben», im Spital, müssen sie nichts bezahlen. Begründet wird das damit, dass Personen mit Familie «Unterhalts- und Unterstützungspflichten» haben. Mit der neus­ten Teilrevision der Krankenversicherungsverordnung soll der Beitrag der Alleinstehenden auf fünfzehn Franken steigen.

Diese Ungleichbehandlung benachteiligt vor allem alte Frauen. Der verheiratete Senior bezahlt nämlich keine Aufenthaltskos­ten im Spital. Seine Witwe einige Jahre später aber schon. Die feministische Ökonomin Mascha Madörin hat es vor fast zehn Jahren in der WOZ erklärt: «Frauen leisten mehr unbezahlte Hilfe für andere, als sie selbst erhalten. Während die Männer weitgehend auf die unbezahlte pflegerische und versorgende Unterstützung durch die Ehefrau zählen können, sind ältere Frauen, die meist länger leben als der Ehemann, bei Altersschwäche und Krankheit stärker auf Unterstützung von aussen angewiesen» (WOZ Nr. 8/2001).

Mit Bezug auf diesen Text spricht sich nun die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) in einer Stellungnahme an das Bundesamt für Gesundheit gegen die geplante Erhöhung aus: «Alleinstehende und verwitwete Frauen wären hier einmal mehr von einer neutral daherkommenden Sparmassnahme besonders betroffen.» Die WOZ freut sich über das späte Echo.

Bettina Dyttrich