Mutterschaft: Menschliches Kapital oder ökonomischer Verlust?: Das Trauma der alten Patriarchen

Die Mutterschaftsversicherung droht daran zu scheitern, dass sie auch Frauen, die nicht erwerbstätig sind, zugute kommen soll. Warum tun sich selbst Feministinnen mit dieser Frage oft schwer?

Nicht dass sich die Erfinder der neoklassischen Ökonomie in Sachen Geschlechterfragen nichts überlegt hätten. Alfred Marshall (1842-1924) zum Beispiel, einer der Gründer der neoklassischen Wirtschafts- und Wohlfahrtstheorie, hat sich mit den Frauen und dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Arbeit befasst. Seinem Anspruch, nicht wie Adam Smith Wirtschaftspolitik, sondern objektive Wissenschaft zu betreiben, ist er allerdings nicht immer nachgekommen – vor allem dann nicht, wenn es um die Familie und um Frauen ging. Dies hat die kürzlich verstorbene kanadische Ökonomin Michèle A. Pujol in ihrem Buch über Feminismus und Anti-Feminismus in den frühen Wirtschaftswissenschaften sehr schön beschrieben.1) Alle Menschen, so setzte Marshall im Sinn seines ökonomischen Rationalitätsbegriffs voraus, versuchen ihren Eigennutzen zu maximieren und können dies am besten auf dem Markt. Nun taucht aber plötzlich in seinen Schriften eine andere Subjektkategorie auf: «die Familie» als Konsumentin, und zwar mit widerspruchsfreien Nutzenvorstellungen. Wie wenn es in einer Familie nicht verschiedene Personen mit verschiedenen Eigeninteressen gäbe.

Die Erfindung des «Humankapitals»

Weiter beschrieb Marshall, dass Wohlfahrt und Reichtum einer Gesellschaft wesentlich davon abhängen, wie viel sie in Menschen investiert: Dies wiederum hängt von den «wirtschaftlichen Mitteln, der Fähigkeit, Zukunft zu planen, und der Selbstlosigkeit der Eltern» ab. Marshall war deshalb um die Jahrhundertwende für Minimallöhne, gegen Kinderarbeit und für die allgemeine Schulpflicht. Das wertvollste allen Kapitals, so schrieb er, «ist dasjenige, das in Menschen investiert wird; und von diesem Kapital ist der wertvollste Teil das Resultat der Fürsorge und des Einflusses der Mutter, solange sie ihren pflegerischen und selbstlosen Instinkt beibehält, und nicht durch die Belastung und den Stress unfemininer Arbeit verhärtet wird» (Übersetzung M. M.). Der Ökonom Marshall schätzte also die wohlfahrtsökonomische Bedeutung des Kinderaufziehens als sehr hoch ein. Daraus folgerte er scharfsinnig, dass es ein ökonomisches Problem gebe: Während Erwerbstätige von Investitionen ins Humankapital profitieren, hätten Personen, welche Kinder aufziehen beziehungsweise in sie investieren, nichts davon. Die einzige Belohnung für Mütter sei deshalb letztlich, so Marshall mit unerbittlicher Logik, die Genugtuung, tugendhaft ihre Mutterpflichten erfüllt zu haben. Da daraus kein ökonomischer Nutzen zu ziehen sei, empfiehlt er verschiedene Massnahmen: Der Staat muss die Freiheit der Eltern regulieren, Frauen müssen zu entsprechend sozialem Verhalten erzogen und von Erwerbsarbeit abgehalten werden, indem ihre Löhne niedriger bleiben als diejenigen der Männer. Marshall forderte auch Fabrikgesetze, welche Mütter vor schädlicher Arbeit schützen.

Das heisst im ökonomischen Jargon: Für Frauen müssen negative Anreize im Erwerbsbereich geschaffen werden, wenn sie weiter Kinder aufziehen sollen. So abscheulich das auch tönt, Marshall muss zugute gehalten werden, dass er die Dinge in seiner Logik zu Ende dachte. Und dass er einen ökonomischen Begriff erfand für das, was die Mütter tun, nämlich Investitionen «in menschliches Kapital» oder «Humankapital» tätigen. Schliesslich sah er, dass es für Mütter (oder Personen, welche Kinder unbezahlt betreuen) ein Problem des Nutzenkalküls oder, wie wir es heute formulieren würden, ein Generationenproblem gibt.

Als ich in Michèle A. Pujols Buch das Kapitel über Marshall las, begann ich mich nachträglich zu wundern, weshalb sich die neue Frauenbewegung seit den siebziger Jahren so intensiv mit der Erweiterung des Arbeitsbegriffs abmühte, um die ökonomische Dimension des so genannt Privaten zu erhellen. Immerhin hatte Marshall schon viel früher einen ökonomischen Begriff dafür – oder mindestens für das Aufziehen von Kindern – geliefert. War es, weil die neue Frauenbewegung sich eher an linken Theorietraditionen als an der neoklassischen Wirtschaftstheorie abarbeiten musste? Oder wird der Dualismus zwischen Ökonomie und so genannter Lebenswelt heute anders erlebt als früher?

«Opportunitätskosten» statt Selbstlosigkeit

Was die heutige Mutterschaftsversicherungs-Debatte von vornherein geprägt hat, ist der Begriff des Erwerbsausfalls und die Idee der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Geburt wird nicht als gesellschaftlich relevante Leistung oder – wie es aus Marshalls Sicht nahe läge – als Anfangsinvestition in Humankapital gedacht, sondern als Erwerbshindernis. Grundsätzlich wird nur der Ausfall von Erwerbsarbeit, nicht aber der Ausfall von Hausarbeit versichert. Zudem ist eine Grundleistung für erwerbsarme Mütter in Haushalten mit sehr niedrigen Einkommen vorgesehen. Dies nehmen viele Bürgerliche als einen Grund, die ganze Vorlage abzulehnen. Die NZZ-Redaktion etwa erklärt ihre Nein-Parole damit, dass neben einer notwendigen Versicherungsleistung für Erwerbstätige eine Art «weit übers Ziel hinausschiessende» Geburtsprämie als Fürsorgeleistung für erwerbsarme Mütter bezahlt werde. Als ob der Ausfall von Familienarbeit keine versicherungstechnische Begründung sein könnte!

Hier ist vielleicht der Grund zu suchen, weshalb sich die neue Frauenbewegung mit der Debatte um den Arbeitsbegriff so schwer tut. Patriarchen wie Marshall hatten die Bedeutung von Frauenarbeit in der Familie sehr wohl erkannt, aber sie unterschieden – entsprechend den Bigotterien des viktorianischen Zeitalters – scharf zwischen der nach andern als ökonomischen Rationalitätsprinzipien funktionierenden Familie und der (Geld-)Wirtschaft. Heute findet eine doppelte Verdrängung der Hausarbeit aus der ökonomischen Wahrnehmung statt. Ein Grossteil der in Sachen Frauenemanzipation scheinbar aufgeschlosseneren TheoretikerInnen denkt sich das Aufziehen von Kindern anders, nämlich als «Opportunitätskosten»: als Verhinderung, Geld zu verdienen, sich in einem Beruf zu verwirklichen oder sich als Frau zu emanzipieren. Damit vermeiden diese TheoretikerInnen elegant das peinliche Konzept der selbstlosen Mütter. Gleichzeitig umschiffen sie die unbequeme Frage, ob Kinder gebären und aufziehen als eine aufwendige und wohlfahrtsökonomisch wichtige Arbeit möglicherweise zu bezahlen sei. Sie nehmen nach wie vor implizit an, dass diese einfach – wie es in der NZZ heisst – «in Eigenverantwortung» getan wird. Aus dieser Sicht werden die «Opportunitätskosten» nur in Bezug auf Erwerbsarbeit berechnet und nicht in Bezug auf die ausfallende Familienarbeit, wenn beispielsweise die Mutter im Kindbett liegt und noch andere Kinder da sind. Der Streit um die Mutterschaftsversicherung reduziert sich dann folgerichtig und irreführend auf den Streit um den Sozialstaat.

Ökonomische Anreize?

Das Kriterium der Erwerbsausfallsentschädigung ist also aus feministischer Sicht nicht unproblematisch. Zudem erinnert die Regelung für «Mütter mit einem bescheidenen Familieneinkommen» – wie es im bundesrätlichen Kommentar zur Abstimmungsvorlage entlarvend heisst – fatal an Marshalls symbiotische Vorstellungen von der Familie als einem kohärenten Wirtschaftssubjekt. Das widerspricht allen bisherigen feministischen Einsichten betreffend Sozialversicherungen: Werden die Leistungen an das Haushaltseinkommen geknüpft, sind sie aus Frauensicht meist sehr fragwürdig.

Eine weitere wichtige Frage aus wirtschaftstheoretischer Sicht ist die, wie denn die so genannt ökonomischen Anreize wirken. Im Zusammenhang mit den Ökosteuern werden darüber heftige wirtschaftspolitische Debatten geführt – und zwar zu Recht. Viel zu wenig kommt dieser Aspekt aber zur Sprache, wenn es um Geschlechterverhältnisse und um die wirtschaftliche Situation von Frauen geht: Ob sich beispielsweise Geburtenprämien oder Kindergelder generell konservativ gegen weibliche Erwerbsarbeit richten und Frauen an Hausarbeit und Familie binden, wie viele Linke befürchten, muss bezweifelt werden. Und wie wirkt sich die Bezahlung von Kindergeld auf den Grad der Erwerbstätigkeit von Frauen mit schlechten Erwerbschancen und niedrigen Einkommen aus? Die US-Ökonomin Ruth Bergmann kommt in einem Vergleich der Sozialversicherungssysteme von Frankreich und den USA zum Schluss, dass das Kindergeld nicht an die Höhe des Erwerbs- und Familieneinkommens gekoppelt, sondern an alle Frauen gleichmässig ausbezahlt werden sollte. 2) Die öffentlich erklärte wirtschaftspolitische Absicht und die tatsächliche Wirkung klaffen oft auseinander, vor allem in Bezug auf Frauen und Geschlechterverhältnisse.

In der aktuellen Debatte aber geht es wohl gar nicht um substanzielle wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen, sondern es darf einfach nichts oder nur wenig kosten. Die vorgeschlagene Mutterschaftsversicherung entspricht gerade mal dem Minimalstandard der EU und kostet, so wie sie jetzt konzipiert ist, nicht einmal ein ganzes Prozent dessen, was sehr vorsichtig geschätzt dem Wert derjenigen Gratisarbeit entspricht, welche Frauen hierzulande mehr für die Gesellschaft erbringen als Männer.

Seit Adam Smith (1723-1790), dem Urpatriarchen und Gründungsvater der modernen Wirtschaftswissenschaften, sind immer wieder wirtschaftstheoretische Fragestellungen aufgetaucht, die für Frauen besonders interessant wären. Jedoch für alle Theorien, egal welcher Denktradition, gilt dasselbe: Dort, wo es um geschlechtsspezifische Unterschiede oder Realitäten von Frauen ginge, hören die Fragen auf und die Antworten werden unlogisch. Dann endet die Theoriebildung in einem Durcheinander von Argumenten, die sich aus Versatzstücken anderer Theorien und Wissenschaften zusammensetzen oder sich auf das Ausserökonomische, Natürliche, das Soziale und Kulturelle schlechthin berufen. Schliesslich werden Gott, der Staat oder das Individuum für verantwortlich erklärt, nicht aber die Wirtschaft. Weil aber Kapitalismus ungerecht, asozial und egoman macht, träumen alle gern von Alternativen im so genannten ausserökonomischen Bereich. Deshalb wirkt dieses Potpourri ungemein anziehend und als Opium gegen genaueres Agumentieren und Nachforschen.

1) Michèle A. Pujol: «Feminism and Anti-Feminism in Early Economic Thought». Aldershot/Brookfield: Edward Elgar. 1992. Text zu Marshall S. 122 ff., Zitate zit. auf S. 125 und 126.

2) Eine Zusammenfassung dazu findet sich in der Zeitschrift «Olympe» Nr. 8 im Artikel «Von Zwängen und Anreizen». In der Zeitschrift «Feminist Economist» befinden sich zur Frage von «Anreizen» ausführlichere Artikel.