USA in Afghanistan: Erst zuschlagen, dann reden und spalten

Die USA brauchen dringend eine Verhandlungslösung in Afghanistan. Und so verhandelt die Regierung in Kabul mit den Taliban, während Pakistan eine gewichtige Rolle spielt. Aber geht die psychologische Kriegführung auf?

Drei Ereignisse haben 2010 die Entwicklung in Afghanistan erheblich beeinflusst: eine erneute Änderung der US-Strategie, die verstärkt wieder auf «kill & capture», das Töten und Festnehmen von Aufständischen setzt, die von sensationell aufgemachten Berichten begleitete Belebung von Kontakten mit den Taliban und die Verhaftung des Talibankommandeurs Mullah Abdul Ghani Baradar Anfang Jahr in Pakistan. Baradar hatte versucht, einen von Islamabad unabhängigen Gesprächskanal mit dem Clan von Präsident Hamid Karzai in Kabul zu eröffnen. Mit der Verhaftung und der damit verbundenen Machtdemonstration hat Pakistans Militär – trotz Zivilregierung die dort herrschende Institution – de facto ein Vetorecht für alle ­Gespräche mit den Taliban geltend gemacht.

General Stanley McChrystal, der nur zwölf Monate lang US-Oberkommandeur in Afghanistan gewesen war, hatte erkannt, dass sich die USA «ihren Weg nicht aus Afghanistan herausschiessen» könnten und es deshalb nicht auf die Zahl der getöteten GegnerInnen ankomme, sondern dass die afghanische ­Zivilbevölkerung geschützt werden müsse.

Nach dem Rauswurf von McChrystal im Juni hat sich sein Nachfolger David Petraeus von dieser Grunderkenntnis abgewandt. Das ist umso überraschender, als Petraeus, der frühere Kommandeur des US-Regionalkommandos für den Nahen Osten, Ostafrika und Zentralasien, selbst als Begründer der als bahnbrechend gefeierten Aufstandsbekämpfungsdoktrin gilt. Er verfolgt derzeit am Hindukusch eine Doppelstrategie.

Der in den USA viel gelesene Kommentator David Ignatius hat sie in der «Washington Post» treffend beschrieben: «Er schiesst mehr, weitet die Spezialoperationen aus und bombardiert Talibankommandeure. Aber er redet auch mehr, das heisst, er unterstützt Präsident Karzais Versöhnungsgespräche mit Talibanvertretern und garantiert als vertrauensbildende Massnahme deren Sicherheit auf dem Weg nach Kabul und zurück.»

Infolge der «kill & capture»-Strategie schalteten die US-Truppen im Jahr 2010 eine grosse Anzahl vor allem mittelrangiger Talibankommandeure aus. Zwischen Mitte Mai und Mitte August sollen es 350 gewesen sein. Ende Oktober hiess es, darunter seien auch fünfzehn Schattengouverneure gewesen; die Taliban haben in den 34 ­afghanischen Provinzen unterschiedlich wirksame Strukturen einer Parallelregierung aufgebaut. Doch ob die Nato-Angaben tatsächlich stimmen, ist unklar. Anfang Woche zitierte die «Los Angeles Times» bisher unveröffentlichte Statistiken des US-Militärs, denen zufolge die Zahl der zivilen Opfer von US-Militäroperationen in Afghanistan gegen­über 2009 dieses Jahr um elf Prozent gestiegen sei.

Obama braucht politische Lösung

Gleichzeitig wurde eine Welle von Presseberichten – und Erwartungen – erzeugt, dass sich eine politische Lösung mit den Taliban anbahnen könnte. Selbst Staffan de Mistura, der Uno-Gesandte in Kabul, erklärte euphorisch, bis Juni 2011 könnte eine politische Vereinbarung mit den Taliban unter Dach und Fach sein. Dahinter steht der politische Druck aus Washington, in Afghanistan Erfolge vorweisen zu können. US-Präsident Barack Obama weiss, dass er nur dann eine Chance auf eine Wiederwahl hat, wenn er noch vor Ende 2012 einen Grossteil der US-Truppen aus ­Afghanistan abziehen kann. Eine – wie auch immer geartete – Verhandlungslösung mit den Taliban könnte dies beschleunigen.

Verhandeln oder spalten?

Dass zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban Kontakte bestehen, wurde erstmals im Juni bekannt, als der arabische Fernsehsender al-Dschasira Wind von Reisen von Abgesandten des Hakkani-Netzes nach Kabul bekam. Dieses Netz ist eine Unterabteilung der ­Taliban in Südostafghanistan, während die meisten anderen Talibangruppierungen ihre Hochburgen weiter südlich um Kandahar haben. Sein Führer Dschalaluddin Hakkani ist ein Islamist der ersten Stunde, und seine erste bewaffnete Aktion unternahm er 1975, als er und Gesinnungsgenossen den Kampf gegen die Beteiligung von Linkspolitikern an der Kabuler Regierung begannen. Das Hakkani-Netz ist für seine engen Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst ISI sowie für seine seit Jahrzehnten bestehenden Beziehungen zu Usama Bin Laden und zu arabischen Finanziers bekannt. Dass die Hakkani-Taliban, deren Infrastruktur in den zu Pakistan gehörenden Stammesgebieten das primäre Ziel der US-Drohnenangriffe ist, nun eine politische Lösung anstreben sollten, erregte natürlich Aufsehen.

Doch neuere Berichte deuten darauf hin, dass die US-Militärs es in Wirklichkeit auf eine Spaltung und Schwächung des Hakkani-Netzes abgesehen haben. Am letzten Oktobertag meldete die Nachrichtenagentur AP, drei Talibanführer seien zu Gesprächen nach Kabul geflogen worden. Unter ihnen befand sich auch Mullah Abdul Kabir, der während des Talibanregimes von 1996 bis 2001 zeitweilig Regierungschef war. Kabir gehört zu den Zadran, demselben Paschtunenstamm wie Hakkani, und hatte bis 2008 vergeblich versucht, von Hakkani unabhängige, direkt von Mullah Muhammad Omar kontrollierte Talibanstrukturen in Südostafghanistan aufzubauen. Der jetzige Kontakt wird deshalb als Versuch gewertet, die Stammesbasis des Hakkani-Netzes zu spalten.

Allerdings bleibt die neue US-Strategie gegenüber den Taliban bisher ohne tiefer greifende Folgen. In den Kerngebieten des Aufstands in Süd- sowie Südostafghanistan führte sie bisher nicht zu einem Rückgang der Operationen der Aufständischen. Im Gegenteil: Die Zahl ihrer Attacken sowie der Neurekrutierungen steigt weiter an. Die Operationen von Nato- und Regierungstruppen in Südafghanistan, in Mardscha und um Kandahar, waren dagegen nur begrenzt erfolgreich. Im Südosten verfügt das Hakkani-Netz erstmals über feste Stützpunkte auf afghanischem Territorium und baut nun ebenfalls Strukturen einer Schattenregierung auf. Selbst nach US-Einschätzungen bleiben die Taliban in der Lage, ihre Verluste zu kompensieren und ihre Befehlskette aufrechtzuerhalten.

Zudem überwindet die Talibanbewegung zunehmend die Distanz zwischen Paschtunen und Nichtpaschtunen. Obwohl ihre Kämpfer nach wie vor mehrheitlich Paschtunen sind, wandelt sie sich allmählich zu einer gesamtafghanischen Bewegung. Gleichzeitig wird aus mehreren Gebieten Afghanistans berichtet, dass nachrückende Kommandeure oft jünger und radikaler sind als ihre Vorgänger. Das Hakkani-Netz, in dem sich gegenwärtig der Generationswechsel vom alt Mudschahed Dschalaluddin zu seinem Sohn Seradschuddin Hakkani abspielt, der eine wahhabitisch geprägte Erziehung in Saudi-Arabien genoss, ist nur ein Beispiel dafür.

Nützliche Gewalteskalation?

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Radikalisierung der Taliban im Rahmen der US-Strategie beabsichtigt ist; von hohen US-Militärs wie Petraeus war immer wieder zu hören, dass es «zunächst schlechter» werde, bevor es dann «besser» werden würde. Sie hegen die Hoffnung, dass radikalere und brutalere Talibankommandeure die Bevölkerung letztlich doch in die Arme der Kabuler Regierung und ihrer Verbündeten treiben.

Wie angesichts der beidseitigen Gewalt­eskalation sinnvolle Gespräche stattfinden sollen, die alle politisch relevanten Kräfte ­Afghanistans einbinden müssten und nicht nur die bewaffneten Fraktionen, ist bisher offen. Noch stehen auch die Vorbedingungen der Taliban und der USA im Weg: keine Verhandlungen vor einem «vollständigen und bedingungslosen Abzug» aller ausländischen Truppen einerseits, und Anerkennung der gegenwärtigen Verfassung, Kappen der Verbindungen mit al-Kaida sowie eine Entwaffnung andererseits. Eine Abgabe ihrer Waffen käme einer Kapitulation der Taliban gleich und ist für sie inakzeptabel. Afghanische Demokraten und Menschenrechtlerinnen befürchten andererseits, dass verfassungsmässige Rechte und Freiheiten im Rahmen eines Kompromisses mit den Taliban wieder über Bord geworfen werden könnten.

Die gegenwärtig beginnenden Kontakte zwischen Kabul und einzelnen Taliban dürften also eher Teil der psychologischen Kriegführung von Petraeus sein. Offenbar wollen die US-Militärs in Afghanistan Misstrauen zwischen den verschiedenen Talibannetzen säen. Warum sonst sollte man an die Öffentlichkeit durchsickern lassen, dass solche Kontakte bestehen? Der unerschütterte Zusammenhalt der Taliban, ihr Einfluss im Lande und ihre teilweise Radikalisierung machen eine Verhandlungslösung zudem wenig wahrscheinlich.

Schliesslich muss der «Pakistan-Faktor» berücksichtigt werden. Solange Islamabad die Taliban in Pakistans wichtigstem Konflikt, mit Indien, instrumentalisiert und beide Staaten nicht mehr Entspannung zulassen, bleibt eine Lösung in Afghanistan extrem schwierig. So kann man davon ausgehen, dass die zu Gesprächen nach Kabul eingeflogenen Talibanführer den Segen Pakistans geniessen – und vom ISI kontrolliert werden.

Thomas Ruttig ist Kodirektor des Afghanistan Analysts Network, eines unabhängigen Thinktanks mit Sitz in Kabul und Berlin.

Die Rückkehr der Russen

Als Wiktor Iwanow, der Chef der russischen Antidrogenbehörde, am 28. Oktober bekannt gab, russische AgentInnen hätten am Vortag in Ostafghanistan gemeinsam mit US-FahnderInnen fast eine Tonne Heroin und 156 Kilo Opium – mit einem Strassenverkaufswert von über 270 Millionen Franken – beschlagnahmt, war nicht nur Präsident Hamid Karzai schockiert. Der Skandal bestand nicht in erster Linie darin, dass der Präsident von der Operation vorab nicht informiert worden war. Vielmehr operierten erstmals wieder russische Sicherheitskräfte in Afghanistan, seit im Februar 1989 der sowjetische General Boris Gromow nach neun Jahren Besatzung mit seinen Truppen die sogenannte Brücke der Freundschaft über den nordafghanischen Grenzfluss Amu in Richtung Norden überschritten hatte.

Die gemeinsame Operation der USA und Russlands ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Seit die westliche Allianz mit ihrer Afghanistan-Intervention nach neun Jahren vor dem Scheitern steht – nicht zuletzt, weil die Nato die anfangs noch von der Uno geleitete Mission Isaf übernahm –, will sie wieder verstärkt Nicht-Nato-Staaten einbinden. Dazu gehörte schon ein Vorschlag des vormaligen britischen Premiers Gordon Brown an die Adresse Pekings, der Isaf Truppen zur Verfügung zu stellen, der jedoch auf eine spöttisch formulierte Ablehnung stiess.

Doch Ende 2009 konnte die Nato Moskau zur Öffnung einer alternativen Nachschubroute durch Russland und die ehemals ­sow­jetischen Republiken in Zentralasien überreden – was Russland einen interessanten Hebel in die Hand gibt, besonders da es bereits zuvor sein Engagement in Afghanistan durch ein Militärhilfeabkommen mit Kabul erhöht hat. Die Aussage von Karl Marx, wonach sich Geschichte einmal als Tragödie abspielt und dann als Farce wiederholt, bestätigt sich in Afghanistan.