Israel und die Nationalreligiösen: Kampf der Kulturen

Nr. 2 –

Ein normales Land will Israel sein und den Nahostkonflikt hinter sich lassen. Tatsächlich haben viele Israelis ganz normale wirtschaftliche und soziale Sorgen. Doch der Versuch, für einmal nur über den israelischen Alltag zu berichten, ganz ohne auf die Besatzung einzugehen, muss scheitern.

«Israel als Demokratie hat nach 1967, seit der Besetzung der palästinensischen Gebiete, grossen Schaden genommen», sagt Soziologe Moshe Zuckermann. Schild beim Ausgang des israelischen Badeorts Ein Gedi am Toten Meer. Foto: Andreas Bodmer

Gut gelaunt sass Botschafter Yigal Caspi letzten November im grossen Sitzungsraum der WOZ, vor sich eine Tasse unseres säuerlichen Kaffees. Eine Botschaftsmitarbeiterin hatte vorgeschlagen, dass uns Israels höchster Diplomat in der Schweiz einen Höflichkeitsbesuch abstatten könnte.

Botschafter Caspi ist ein angenehmer und redseliger Zeitgenosse. Er ist nach Zürich gekommen, weil er auch mal über anderes sprechen will als über die israelischen Positionen im Nahostkonflikt. Israel sei doch auch sonst interessant, sagt der Botschafter, er erwähnt die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Schweiz, das grosse Innovationspotenzial – und warum wird eigentlich so selten über die kreative israelische Küche berichtet?

Nicht nur Botschafter Caspi fordert, Israel doch bitte wie andere wirtschaftlich starke Demokratien zu behandeln. So flog ich die vier Stunden an die östliche Mittelmeerküste, um zu erfahren, was normale israelische BürgerInnen in ihrem Alltag beschäftigt. Noch mehr als die Kulinarik interessierte mich, was aus den sozialen Massenprotesten von 2011 geworden ist, bei denen bis zu 400 000 Menschen auf die Strassen gingen – fünf Prozent aller EinwohnerInnen. «Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit!», riefen die Israelis im gleichen Rhythmus, wie er zuvor schon auf dem Kairoer Tahrirplatz zu hören gewesen war.

Solch innenpolitischen Fragen nachzugehen, war also mein Plan. Trotzdem bin ich gegen Ende der Reise im besetzten Westjordanland gelandet. Ich musste von Nationalreligiösen mit Schweizer Pass, einem christlichen Palästinenser und einem äthiopischen Juden lernen, dass in Israel soziale Gerechtigkeit nicht von der Besatzungs- und Immigrationspolitik zu trennen ist.

«Bewegung des Bürgertums»

In Tel Aviv gelingt mein Plan zunächst noch ganz gut. Eine offene Mittelmeerstadt, multikulturell, lebensfroh und mit der weltweit grössten Ansammlung von Bauhausarchitektur. Damit verkörpert die Grossstadt noch heute das säkulare zionistische Ideal Theodor Herzls: «Altneuland», eine Renaissance jüdischer Kultur in der Levante.

Doch Tel Aviv ist nicht nur das Wirtschaftszentrum Israels, hier zeigt sich auch die soziale Zerrissenheit des Landes. War die Staatsgründung noch ein sozialdemokratisches Projekt, das eine der weltweit egalitärsten Gesellschaften schuf, hat die radikale Hinwendung zu neoliberalen Wirtschaftsrezepten ab Mitte der achtziger Jahre aus Israel ein anderes Land gemacht. Insbesondere die weitgehenden Privatisierungen haben dazu geführt, dass Israel heute unter den reichen Staaten die zweithöchste soziale Ungleichheit und die höchste Armutsrate bei Kindern aufweist. Sechzig Prozent des israelischen Wirtschaftskapitals liegen in den Händen von nur achtzehn Familien.

In den baufälligen Häusern und verdreckten Strassen im Süden Tel Avivs wohnen die VerliererInnen dieser Politik: Juden aus Indien oder Äthiopien etwa, Gastarbeiterinnen von den Philippinen, Asylsuchende aus Eritrea und dem Sudan. Die unmögliche Wohnsituation in Tel Aviv, wo sich die Mieten innert fünf Jahren verdoppelt haben, löste im Sommer 2011 die Protestbewegung für soziale Gerechtigkeit aus. Sie verbreitete sich bald im ganzen Land. «Die Proteste führten dazu, dass die Politik auf die sozialen Probleme aufmerksam wurde», sagt Marc Grey von der Vereinigung für Bürgerrechte in Israel. Nicht weit vom prächtigen Rothschild Boulevard, wo die Demonstrationen ihren Anfang nahmen, verbringt der junge Sprecher der ältesten Bürgerrechtsorganisation Israels seine Mittagspause in einem netten Bistro und bestellt sich ein nahöstlich-russisch inspiriertes Sandwich (ja, die kreative Landesküche!). «Trotzdem ist die Gesetzgebung seither weiterhin in die andere Richtung gegangen», fährt Grey fort. «Die Bewegung ist nicht tot. Sie hat sich professionalisiert, aber dadurch hat sie auch an Kraft verloren. Noch immer gibt es keine öffentlichen und günstigen Wohnprojekte.»

Was Grey seit einigen Jahren noch mehr zu schaffen macht, ist der «schleichende Angriff» auf demokratische und bürgerliche Rechte durch die Regierung und die Knesset, das israelische Parlament: «Erliess die vorgängige Knesset noch offensichtlich rassistische Gesetze, die dadurch auch angreifbar waren, tut die aktuelle Parlamentsmehrheit Ähnliches, geht aber viel geschickter vor.» Wenn derzeit zum Beispiel ein Förderprogramm für ehemalige Militärangehörige diskutiert wird, schliesst das die arabischen BürgerInnen aus, die nicht in die Armee eingezogen werden – das ist ein Fünftel der Israelis. Oder wenn die Wahlhürde für die Knesset wie geplant auf vier Prozent angehoben würde, träfe das in erster Linie die arabischen Parteien.

Der Soziologe Moshe Zuckermann sieht die soziale und die demokratische Frage noch grundsätzlicher. Er ist Professor an der Tel-Aviv-Universität, wo er mich in seinem kleinen, fensterlosen Büro empfängt (an Kulinarik ist nicht zu denken). «Israel als Demokratie hat nach 1967, seit der Besetzung der palästinensischen Gebiete, grossen Schaden genommen, da es seither auch ein Okkupationsregime ist», sagt Zuckermann. «Nach der vorletzten Wahl 2009 kommt hinzu, dass Knesset und Regierung zunehmend undemokratische Gesetze erlassen und anwenden. Ausserdem sind der Rechtsradikalismus und die Religion zu wichtigen Faktoren der Politik geworden.»

«Den Arabern geht es hier viel besser als in den umliegenden arabischen Ländern», sagt Siedler Chanania Guggenheim. Yad La’Shiryon, Gedenkstätte und Museum der Panzertruppe der israelischen Armee in Latrun westlich von Jerusalem. Foto: Andreas Bodmer

In die soziale Bewegung setzt Zuckermann, der sich als Marxist bezeichnet, überhaupt keine Hoffnung: «Das war eine Bewegung des Bürgertums, bei der die unteren Klassen ausgegrenzt wurden.» Es sei nie um Systemkritik gegangen, sondern um die Sicherstellung einer modifizierten Teilhabe am selben System. Dass die Protestbewegung den israelisch-palästinensischen Konflikt bewusst nicht thematisierte, habe wohl zum anfänglichen Mobilisierungserfolg beigetragen. Inhaltlich hält dies Zuckermann aber für einen riesigen Fehler: «Man kann nicht soziale Gerechtigkeit fordern und zugleich ein vom eigenen Land betriebenes brutales Okkupationsregime hinnehmen, ohne dabei zutiefst ideologisch zu werden.» Nur schon in finanzpolitischer Hinsicht hätte die Protestbewegung fragen müssen, wie viele Mittel die Besatzung bindet und wie diese sinnvoller eingesetzt werden könnten.

Darauf angelegt habe ich es nicht. Aber wann immer ich hier sozialen Fragen nachgehe, werde ich früher oder später mit dem Nahostkonflikt und dessen Einfluss auf die Demokratie konfrontiert. Vielleicht hilft es, wenn ich mich weiterhin möglichst weit weg von den besetzten Gebieten halte, nordwärts in die Hafenstadt Haifa fahre und dort weder Marxisten noch Menschenrechtsaktivisten, sondern unbescholtene ältere BürgerInnen treffe.

Die 70-jährige ehemalige Industrieangestellte Doris Heilbut und der 78-jährige pensionierte Geografiedozent Shimon Stern gehören zur grossen Schweizergemeinde in Haifa, stammen aus säkularen jüdischen Familien und sind relativ jung eingewandert. Sie zählen sich zum Mittelstand. «Israel steht ökonomisch relativ gut da, die weltweite Wirtschaftskrise haben wir kaum gespürt, und unsere Hightechindustrie ist langfristig konkurrenzfähig», sagt Stern in reinstem Baseldeutsch. «Die zunehmende Ungleichheit macht zwar auch mir etwas Sorgen, doch sie wird überschätzt. Sie ist vor allem ein Effekt der kinderreichen, wachsenden Gruppe der Ultraorthodoxen, die ja freiwillig in Armut lebt.»

Das Denken der beiden rüstigen RentnerInnen dreht sich allerdings meist um anderes als um solch profane Fragen. «Israel kann man nicht einfach mit anderen Staaten vergleichen, denn Israel steht für ein Volk, eine Religion und ein Land», setzt Doris Heilbut an. «Es ist einmalig, dass ein Volk seit 3000 Jahren besteht. Die Juden waren die ersten Besiedler dieses Landes, so steht es in der Bibel, und deshalb erheben wir auch Anspruch auf das ganze Land Israel.» Shimon Stern ging über Jahrzehnte an der Fakultät für Jüdische Studien der Bar-Ilan-Universität solchen Fragen der «historischen Geografie und Besiedlungsgeografie» nach.

«Seit ich in Israel bin, bin ich eindeutig religiöser geworden und politisch nach rechts gerutscht», sagt Heilbut. Früher wählte sie das konservative Parteienbündnis Likud, das 1977 die langjährige Dominanz der Arbeitspartei brach und auch die heutige Regierung anführt. Mittlerweile wählt sie die nationalreligiöse Siedlerpartei Jüdisches Heim, die mit einem WählerInnenanteil von fast zehn Prozent seit 2013 Teil der Regierungskoalition ist. «Wir hätten nach dem Sieg im Sechstagekrieg 1967 die eroberten Gebiete annektieren sollen, dann wäre die Frage eines palästinensischen Staats gar nicht entstanden», sagt Heilbut. «Seither wird dort in Schulbüchern und Medien bewusst der Hass auf Juden geschürt, und das hat sich auch mit den Friedensverhandlungen nicht geändert.» Und leider komme man mit schönen Prinzipien wie «gleiche Rechte» nicht weit, das habe sie schon als junge Frau in Paris bei einem unschönen Vorkommnis mit einem Araber lernen müssen.

Soziale Siedlerbewegung

Israel und palästinensische Gebiete (Grosse Ansicht der Karte) Karte: WOZ

Mit arabischen Israelis hat Heilbut kaum Kontakt, und die «umstrittenen Gebiete von Judäa und Samaria» kennt sie nur von Familienbesuchen bei ihrem Sohn, der aus Überzeugung dort hingezogen ist. Das Wohnen in solchen völkerrechtlich illegalen Siedlungen im besetzten Westjordanland und im annektierten Ostjerusalem liegt im Trend – über 600 000 Menschen tun es, rund zehn Prozent aller jüdischen Israelis. Das hat nicht nur nationalreligiöse Gründe, sondern auch soziale. In Westjerusalem sind Wohnungen so teuer geworden, dass viele in die günstigeren Suburbs ziehen, die zumeist illegale Siedlungen sind. Mittlerweile hat die SiedlerInnenbewegung gar die Ultraorthodoxen erfasst, die lange aus religiösen Gründen gegen die Siedlungspolitik waren, nun aber vermehrt Jerusalem verlassen, weil sich dort viele ultraorthodoxe Familien (in denen traditionell nur die Frauen arbeiten) keine grösseren Wohnungen für ihre Kinder mehr leisten können.

Zwischen Jerusalem und den jüdischen Suburbs im Westjordanland gibt es eigene, eingezäunte Strassen und regelmässige Busverbindungen. Dass sie täglich durch besetztes Gebiet pendeln und dass ihre Wohnung in irgendeiner Weise illegal sein könnte, wissen viele SiedlerInnen nicht. Zur abendlichen Rushhour fahre ich vom Einkaufszentrum des Ostjerusalemer Stadtteils Pisgat Ze’ev mit dem Bus Nummer 142 ohne Halt fünf Kilometer nach Nordwesten in die Siedlung Geva Binyamin, besser bekannt als Adam. Die Kontrolle am Eingangstor ist lasch. Ansonsten versprüht der Ort, der auf einem Hügel liegt und über 5000 EinwohnerInnen hat, den säuberlichen Charme einer etwas zu gross geratenen Gated Community. Die Sonne geht unter. Ein Jogger läuft dem Sicherheitszaun entlang, Kinder unterschiedlichster Herkunft jauchzen auf Schulhöfen, Spiel- und Sportplätzen, Schäferhunde werden spazieren geführt, auf einer Parkbank blättert ein Ehepaar in Zeitschriften. Ausserhalb des Sicherheitszauns gibt es einen breiten Streifen Ödland, die obligate Sicherheitszone. Auf den Hügeln rundherum liegen arabische Dörfer; Minarette leuchten grellgrün herüber, Muezzine rufen zum Abendgebet.

Chanania Guggenheim nimmt mich an der ersten Busstation von Geva Binyamin in Empfang, führt mich in sein Reihenhaus aus gelblichem Stein, wo Frau und Kinder gerade am Abendessen sind. Auch ich kann mich an Pasta und Salat satt essen, während mir der 36-jährige Rechtsanwalt seine Sicht der Dinge darlegt. Vor zwanzig Jahren brach er in der Schweiz das Gymnasium ab, ging nach Jerusalem ins Internat und dann zur Hochschule – das Studium des Talmud war eine Herzensangelegenheit, dasjenige der Jurisprudenz sichert das Einkommen. «Noch immer bin ich ein Schweizer Patriot», sagt Guggenheim, der wie fast alle eingewanderten schweizerischen JüdInnen Doppelbürger ist. «Aber für mich war immer klar, dass das jüdische Volk und das Land Israel zwei Hälften eines Ganzen sind.» Er habe eine direkte Verbindung zu seinen Vorvätern, und deshalb spricht er auch von einem Vorkommnis, das über 2000 Jahre zurückliegt, ganz selbstverständlich in der Ich-Form: «Ich bin von den Römern hier rausgeschmissen worden.»

Heute wehrt sich Guggenheim im Zentralvorstand des Likud dagegen, dass das Parteienbündnis eine Zweistaatenlösung propagiert. «Ich habe nichts gegen eine arabische Autonomie innerhalb des jüdischen Staats», sagt der Siedler. Er suche den Kontakt zu AraberInnen. «Die meisten wollen einfach in Frieden leben und nicht unbedingt in einem eigenen, möglicherweise korrupten Staat.» Es sei eine Lüge, dass die PalästinenserInnen unterdrückt würden: «Den Arabern geht es hier viel besser als in den umliegenden arabischen Ländern.» Leider zeige die Geschichte, dass der Islam, im Gegensatz zum Juden- und Christentum, bislang die Unterwerfung Andersgläubiger gefördert habe. «Deshalb sollten auch die Europäer froh sein, dass Israel und wir, die hier wohnen, den Vormarsch dieses unterwerfenden Islam eindämmen.»

Guggenheim, Heilbut und Stern sind offenbar durch die gleiche religiös-zionistische Schule gegangen. Sie glauben fest daran, dass Gott das «Land Israel» (Eretz Israel) dem jüdischen Volk gegeben hat und es deshalb kraft höherer Gewalt den JüdInnen gehört. Dieses nationalreligiöse Gebot, dem mittlerweile bis zu einem Drittel der jüdischen Israelis Sympathie entgegenbringt, beschwört einen Kampf der Kulturen herauf, in dem wenig Raum für individuelle menschliche Rechte bleibt. Gleichzeitig versuchen die Nationalreligiösen, nicht zuletzt in Abgrenzung zum vermeintlich gewalttätigen Islam, einen jüdischen Humanismus hochzuhalten. Dass durch die Besatzungspolitik etwa palästinensischen BäuerInnen Land und somit die Lebensgrundlage entzogen wird, lässt auch Guggenheim nicht ganz kalt: «Ja, das kann ein Problem sein; doch das sind juristische Fragen», sagt der Jurist. «Viele können ihr Landrecht nicht beweisen, und nur weil jemand fünfzig, sechzig Jahre lang ein Stück Land bebaut hat, heisst das nicht, dass es ihm tatsächlich gehört.»

Wie die anderen Israel-SchweizerInnen war auch Guggenheim noch nie in palästinensisch verwaltetem Gebiet. Und wie die anderen führt er auffällige rote Warntafeln als Beweis an, dass «die Juden» dort verfolgt würden. In Wahrheit kann man auf den durch den israelischen Staat aufgestellten Tafeln lesen, dass es gemäss «israelischem Recht» für «israelische Bürger» verboten sei, die Gebiete zu betreten. Viele jüdisch-israelische MenschenrechtsaktivistInnen fahren regelmässig in die palästinensisch verwalteten Gebiete; die Männer nehmen ihre Kippa nicht wegen der arabischen BewohnerInnen ab, sondern wegen der israelischen Kontrollposten.

Ein Christ in Sippenhaft

Wenn die israelisch-schweizerischen Nationalreligiösen zum Beispiel einmal von Jerusalem eine Viertelstunde nach Bethlehem fahren würden, könnte ihr Konstrukt einer neuzeitlichen Allianz von humanistisch gesinnten Christen und Jüdinnen, die sich heroisch gegen gewaltbereite Muslime stellen, ins Wanken geraten.

Baschir Qonqar ist Araber und griechisch-orthodoxer Christ. Der 33-jährige PR-Manager und Künstler empfängt mich in seinem Atelier ausserhalb von Bethlehem; wir sind von halb fertigen Gemälden umgeben und bekommen von Baschirs Mutter einen exzellenten arabischen Kaffee serviert. Die Qonqars stammen aus Ramleh nahe Tel Aviv. Die Grosseltern flüchteten 1948 vor Angriffen der Hagana, einer jüdischen paramilitärischen Truppe, ins Westjordanland nach Bethlehem. An eine Rückkehr sei nicht zu denken gewesen, denn das Haus sei konfisziert worden.

Baschir Qonqars Vater wurde in den achtziger Jahren in der Kommunistischen Partei Bethlehems aktiv und beteiligte sich an Demonstrationen gegen die Besatzung. «1988, als ich acht Jahre alt war, wurde mein Vater vom israelischen Militär erschossen», sagt Qonqar und zieht nachdenklich an seiner Zigarette. «Wir wurden gezwungen, die Leiche noch in derselben Nacht zu begraben; eine Begründung oder gar Untersuchung der Tat gab es nie.» Im Gegenteil, die Ehefrau und die vier Kinder befinden sich seither quasi in Sippenhaft. Monatelang seien Soldaten ohne erkennbaren Grund ins Haus eingedrungen und hätten Angst und Schrecken verbreitet. Qonqar erhält bis heute kaum je eine Einreiseerlaubnis in die nahe Grossstadt. «Christen dürfen eigentlich immer zu Weihnachten nach Jerusalem. Mir wurde das bisher erst dreimal erlaubt.» Zudem verlor die Familie am Dorfrand ein grösseres Stück Land mit Olivenbäumen, das der nahen jüdischen Siedlung Gilo einverleibt wurde. Israel versuchte, die Landnahme juristisch zu regeln, zuerst mit mehreren Kaufangeboten, die die Familie ablehnte. Schliesslich legten die Behörden ein Dokument vor, das beweisen sollte, dass Qonqars Vater das Land 1994 verkauft habe – sechs Jahre nach seinem Tod.

Wie die meisten PalästinenserInnen ist Qonqar pragmatisch: Er wisse, dass auch die Mehrheit der Israelis Frieden wolle; er hätte deshalb auch kein Problem damit, in einem gemeinsamen Staat zu leben, wenn alle die gleichen Rechte bekämen. «Die Besatzung ist ein Problem», sagt der Christ. «Weil Israel die Grenzen kontrolliert und weil dadurch alle Importe doppelt besteuert werden, sind die Lebenskosten im Westjordanland sehr hoch, während die Löhne extrem tief bleiben.» Aber vieles könnten die PalästinenserInnen schon jetzt an die Hand nehmen, etwa die Infrastruktur ausbauen oder die eigene Wirtschaft fördern.

Doch wie die meisten PalästinenserInnen ist Qonqar ohne viel Hoffnung. «Wie können die Juden ihr Recht auf Rückkehr ins ‹Heilige Land› einfordern und gleichzeitig das Rückkehrrecht der vertriebenen Araber ignorieren?» Der Konflikt widerspiegelt sich denn auch nicht in seinen verwinkelten Gemälden, die vor allem in den USA gekauft werden. «Das wäre sinnlos», sagt Qonqar. «Ich würde Energie in etwas investieren, für das es kaum je eine Lösung geben wird.»

Tiefe Gräben

Unter dem zunehmenden Einfluss der Nationalreligiösen ist eine Lösung des Konflikts in der Tat in weite Ferne gerückt, obwohl gemäss Befragungen auf beiden Seiten rund zwei Drittel der Menschen eine friedliche Koexistenz befürworten. Und weil das Recht der Stärkeren den heutigen politischen Diskurs dominiert, kommen auch im israelischen Kernland immer mehr BürgerInnen unter die Räder. Nicht nur die arabischen Israelis.

Während die Nationalreligiösen gern ein einheitliches «jüdisches Volk» konstruieren, gibt es zwischen den verschiedenen jüdischen Einwanderungsgruppen tiefe Gräben – religiös-säkulare und ethnische. Ganz unten stehen die rund 135 000 äthiopischen JüdInnen. Erst 1984 durften die ersten ÄthiopierInnen einwandern. Ein Jahr später kam Avraham Negussie, Gründer und Chef von South Wing to Zion, einer Organisation, die sich für die Rechte der äthiopischen Israelis einsetzt und für die 5000 ÄthiopierInnen, die noch immer in Flüchtlingscamps auf die Einreiseerlaubnis warten. «Es gibt eine grosse Ungerechtigkeit», sagt Negussie in seinem kleinen Büro in Westjerusalem. «Israel hat alle Juden in Europa und Russland aufgefordert heimzukehren. Wir aber müssen praktisch für jeden einzelnen äthiopischen Juden kämpfen.»

Das widerspricht dem Selbstverständnis Israels, Heimat für alle Jüdinnen und Juden zu sein. Anders als bei den RussInnen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in erster Linie als Wirtschaftsflüchtlinge herkamen und kaum noch eine Ahnung von jüdischen Traditionen hatten, wenden die israelischen Behörden bei den ÄthiopierInnen eine viel strengere Definition des Jüdischseins an. Der Kampf der Kulturen findet gerade im israelischen Kernland statt.

Botschafter Yigal Caspi hat wohl geahnt, dass ich während meiner Israelreise den Nahostkonflikt nicht links liegen lassen würde. Er erinnert mich daran, die «einzigartigen Probleme Israels» und «die Diversität der Meinungen zu allen Themen» zu berücksichtigen. Das will ich tun. Doch in Zeiten, in denen sich mehr und mehr Israelis in einen nationalreligiösen Fundamentalismus flüchten, ist diese Diversität bedroht. Linke werden als verräterisch, proarabisch und antireligiös verschrien. So werden auch sozialpolitische Vorstösse diskreditiert, die die israelische Gesellschaft wieder näher zusammenbringen könnten.

Einigkeit herrscht immerhin bei der Landesküche. Sie ist köstlich, multikulturell und überaus nahöstlich.

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