Die lange Geschichte der Eskalation: «Es bleibt nur der Friedensweg»
Der israelische Historiker und Soziologe Moshe Zuckermann sagt, die Hamas sei fundamental böse. Dennoch dürfe Israel jetzt nicht zum reinen Opfer gemacht werden.
WOZ: Herr Zuckermann, wie gross ist die Erschütterung, die Israel derzeit erlebt?
Moshe Zuckermann: Das, was wir seit letztem Samstag erleben, ist präzedenzlos. Noch nie sind so viele jüdische Zivilisten auf israelischem Boden getötet worden. Präzedenzlos ist auch die Tatsache, dass die Hamas so weit eindringt, dass sie ungehindert Menschen massakrieren und entführen konnte.
Wie konnte das passieren?
Die Geheimdienste haben komplett versagt, aber auch die ganze operationelle Seite. Viele Einheiten, die eigentlich für den Schutz der Kibbuzim im Süden zuständig wären, waren ins Westjordanland abtransportiert worden, um religiös-zionistische Feste zu bewachen. Es ist ein unvorstellbares Fiasko, das auch damit zu tun hat, dass die israelische Politik der Hamas in letzter Zeit mit einer Nonchalance begegnet ist, die man fast schon als Arroganz bezeichnen muss. Die Regierung glaubte, die Hamas habe kein Interesse an einem Angriff auf Israel.
Einbrennen werden sich von diesem Angriff vor allem die Bilder des Massakers an einem Musikfestival, wo die Hamas friedlich feiernde junge Menschen abgeschlachtet und entführt hat. Sie haben die Nonchalance der Regierung gegenüber dem Gegner kritisiert. Warnen aber auch seit Jahren, dass die Okkupationspolitik Israel keine Sicherheit bringt. Eine Position, die angesichts der Gräuel der Hamas schwierig aufrechtzuerhalten ist?
Ich spreche die Hamas in keiner Weise von der Verantwortung für die Massaker frei. Die Hamas ist eine fundamental böse terroristische Vereinigung. Aber: Terror entsteht immer in einem Kontext. Israel hat sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen, schikaniert die dort gefangene Bevölkerung aber weiter, kontrolliert etwa die Elektrizitätsversorgung. Und Israel hat den Gazastreifen nach Raketenangriffen immer wieder bombardiert, mit Tausenden zivilen Opfern. Wenn man lange genug im Kollektiv gängelt und mordet, dann befördert man den Terror. Was man auch sagen muss – und das ist eines der grössten Paradoxien: Israel war Geburtshelfer der Hamas. Rechtsgerichtete Politiker unterstützten die Organisation nach der Entstehung, auch finanziell. Denn man betrachtete die gemässigtere PLO unter ihrem charismatischen Führer Yassir Arafat als Gefahr für Israel und wollte sie schwächen.
Innerlinke Nahostdebatten sind manchmal frustrierend schablonenhaft: Hier jene, die jede Kritik an der israelischen Regierung als antisemitisch bewerten, dort manche Antizionist:innen, die den Terror der Hamas nicht benennen wollen. Sie persönlich bezeichnen sich nicht als Antizionisten, legen aber den Finger auf die innerisraelischen Wunden und Widersprüche.
Ein Antizionist findet, der Zionismus hätte nie in die Welt kommen dürfen. Ich war Zionist, weil ich den Eindruck hatte, dass nach 1945 die Gründung eines Staates der Juden notwendig war. Aber heute kann ich kein Zionist mehr sein, denn der Zionismus hat sich als das entpuppt, was er in der Anlage immer auch gewesen ist: rassistisch und expansionistisch. Alle israelischen Regierungen haben seit 1967 mit der Besiedelung des Westjordanlands dafür gesorgt, dass der Zionismus zu einem Okkupationsregime wurde. Das Erobernde und dadurch eben auch Schikanierende ist damit zu seinem Wesenszug geworden. Und auch die Gewalt und der Terror, die die Besatzung erzeugt. Ich glaube, wenn der Zionismus den Friedensweg nicht findet, betreibt er seinen eigenen Untergang.
Eine Ihrer Grundthesen ist, dass die israelischen Regierungen diesen Frieden grösstenteils gar nicht gewollt hätten. Wie kommen Sie zu dieser Analyse?
Dass man den Frieden wolle, war von Anfang an die grosse Lüge des zionistischen Projekts. Bereits 1967 – ab dem Moment, wo man Territorium hatte, das man für eine Friedenslösung hätte abtreten können – hat sich gezeigt, dass man das eben nicht will. Keine israelische Regierung ist diesen Weg gegangen. Der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak sagte einst, es gebe auf der anderen Seite keinen Partner für den Frieden. Sicher haben auch die Palästinenser Fehler begangen. Aber Israel hätte es viel mehr in der Hand gehabt, den Friedensprozess anzukurbeln. Stattdessen hat man immer mehr Siedlungen gebaut, heute leben 600 000 Siedler im Westjordanland. Diese Leute wieder abzuziehen, scheint mittlerweile kaum mehr möglich, abgesehen davon, dass manche dann wohl zu den Waffen greifen würden. Die Palästinenser hingegen stehen heute so schwach da wie eh und je.
Sie gehen so weit zu sagen, dass der Frieden aus der inneren Logik des Zionismus heraus gar nicht gewollt werden kann.
Ich denke schon, dass der Zionismus sich auch in anderer Form hätte entfalten können. Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte der frühere Ministerpräsident Jitzhak Rabin ein Friedensabkommen erreicht. Es ist aber auch kein Zufall, dass Rabin von einem zionistisch-religiösen Fundamentalisten hingerichtet wurde. Aus psychologischer Perspektive lässt sich auch die These aufstellen: Das zionistische Projekt kann deshalb keinen Frieden wollen, weil es nie an seine Nachhaltigkeit geglaubt hat.
Wie meinen Sie das?
Es stand von Anfang an unter negativen Vorzeichen. Die Grundbedingungen für einen modernen Nationalstaat waren nicht erfüllt: Die Juden waren nicht im Besitz eines Territoriums, sie waren kein homogenes Kollektiv, und nicht einmal die kulturelle Grundlage der Nationalsprache war gegeben. Daher war die Konsolidierung der israelischen Gesellschaft immer ex negativo, aus dem Negativen heraus. Auch deshalb wird die Sicherheitsfrage dermassen fetischisiert und ideologisiert. Die israelische Gesellschaft lebt davon, dass die Bedrohung von aussen kommt. Man muss sich aber auch überlegen, was überhaupt passieren würde, wenn plötzlich tatsächlich Frieden herrschen würde.
Was?
Die Nähte der Gesellschaft würden aufplatzen. Israel ist eine zerrissene Gesellschaft. Es gibt Konflikte zwischen Religiösen und Nichtreligiösen, zwischen den sephardischen, also orientalischen Juden und den europäischen Aschkenasim, zwischen Alteingesessenen und Neueingewanderten. Ich könnte weitere solche Konfliktkoordinaten aufzählen.
Für die aktuelle Regierung gilt, was Sie «Fetischisierung der Sicherheitsfrage» genannt haben, ganz besonders: Die Koalition verfestigt mit ihrer unterdrückerischen Okkupationspolitik die instabile Lage, und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu spielt sich immer wieder als der starke Mann auf.
Israel hat derzeit die rechtsradikalste Regierung, die wir je hatten. Netanjahu koaliert mit den ultrazionistischen, rechtsextremistischen Kahanisten. Die beschwören die Bedrohung schon gar nicht mehr herauf, sondern sagen direkt, dass die Araber im israelischen Kernland und in den besetzten Gebieten nichts verloren hätten. Es wird offen ein Bevölkerungsaustausch gefordert, ethnische Säuberungen. Als Meir Kahane, der damalige Anführer der Kahanistenbewegung, in den achtziger Jahren Ähnliches forderte, wurde er nicht mehr zu den Wahlen zugelassen. Heute sind die Kahanisten in die Regierung eingebunden, und Netanjahu hat mit Itamar Ben-Gvir einen der grössten Extremisten zum Polizeiminister gemacht. Wenn einer wie er Polizeiminister ist, welche Sicherheit hat die Zivilgesellschaft da noch zu erwarten? Was haben die Araber in diesem Land zu erwarten? Und wie will man sich unter diesen Bedingungen, die natürlich den Frieden dauernd unterwandern, auch nur einbilden, Sicherheit generieren zu können?
Und in diese Gemengelage schlägt nun der Terror der Hamas ein. Die Angriffe sind eine Zäsur. Doch in welche Richtung wird es gehen?
Das optimistischste Szenario ist die Entstehung einer neuen Friedensbewegung. Die Protestbewegung, die in Israel seit Monaten gegen die geplante Justizreform auf die Strasse geht, hat bislang die Frage der Okkupation nicht gestellt. Sie ist tabu. Jeder Politiker, der Frieden fordern würde unter der Prämisse eines Abzugs aus den besetzten Gebieten, des Abbaus der Siedlungen, der Lösung der Jerusalemfrage und in irgendeiner Weise auch eines Übereinkommens in der Frage des Rückkehrrechts der Palästinenser, wäre politisch innerhalb weniger Wochen erledigt. Wir reden im Moment über den Terror, aber nicht über den Gesamtkontext der Katastrophe. Netanjahu hat es geschafft, die Frage der Palästinenser einfach von der israelischen Tagesordnung wegzuwischen.
Nach dem Jom-Kippur-Krieg wurde die damalige Regierung der Arbeitspartei Awoda durch Proteste gestürzt. Im besten Fall kommt es in Israel, nach einem Krieg – der nun Wochen oder Monate dauern wird –, zu Protesten, die das Friedenselement integrieren. Auf der anderen Seite fürchte ich wegen des Terrors eine Art Regression.
In welcher Hinsicht?
In Bezug auf die Wahrnehmung Israels, das nun wieder viel Rückendeckung erhält. Alle solidarisieren sich mit Israel, aber die Leute wissen gar nicht, mit was für einem extremistisch geführten Israel sie sich solidarisieren. Selbst US-Präsident Joe Biden, der Netanjahu lange auf Distanz gehalten hat, hat nun noch mehr militärische Mittel versprochen. Israel, das in letzter Zeit verstärkt kritisiert wurde, ist plötzlich wieder das Opfer, obwohl es in diesem Konflikt das genaue Gegenteil ist: Die israelische Politik generiert Opfer. Doch nun wurden israelische Bürger angegriffen. Und zwar nicht die nationalreligiösen Siedler im Westjordanland, sondern Kibbuzim. Leute, die oft sozialistisch geprägt sind und Frieden wollen. Ich fürchte, dass sich nun die Grundposition der Stagnation verfestigen könnte. Das wäre auch innerisraelisch eine grosse Katastrophe, denn wir werden von einer kriminellen Bande regiert.
Moshe Zuckermann (74) ist israelisch-deutscher Soziologe und emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Er ist Autor verschiedener Bücher zum Nahostkonflikt, unter anderem ist von ihm erschienen: «Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt».