«West Side Story»: «Jugendkriminalität ist eine soziale Krankheit»

Nr. 9 –

Ein halbes Jahrhundert nach ihrer Uraufführung lässt sich derzeit in Zürich ein Wiedersehen mit Leonard Bernsteins «West Side Story» feiern. Die Geschichte hat kaum an Aktualität verloren.

«In Amerika ist alles echt», meint eine der schwarzen Tänzerinnen und streift mit der Hand durch eine Strähne ihrer peroxidblonden Perücke. Sie unterhält sich mit ihren ebenfalls aus Puerto Rico – einem US-amerikanischen Aussengebiet – eingewanderten Freundinnen über Vor- und Nachteile des Lebens in New York City. Ihr Gespräch leitet in den grossartigen Song «America» über, der wie «Cool», «I Feel Pretty», «Gee, Officer Krupke» und andere Songs aus dem Musical «West Side Story» ein ausgesprochener Ohrwurm ist. Leonard Bernsteins mitreissende Kompositionen, in denen er Latin-, Jazz- und Klassikelemente zu einem feurigen Reigen montiert, driften auch aus heutiger Sicht nur selten in etwas kitschige Gefilde ab.

Nicht ganz so tragisch

Im Text von «America» wird die oft besungene Freiheit in den USA den Lebensumständen auf der armen karibischen Inselgruppe gegenübergestellt. Das schöne Wetter, die Hurrikane und die Armut auf der Insel werden aufgewogen gegen die «Freiheit», in Manhattan Schuhe zu putzen oder in einem Laden für Heiratskleider zu arbeiten. In die Hauptstadt San Juan zurückzukehren, ist keine Option mehr, da «alle schon hier» und in der neuen Hoffnungslosigkeit angekommen sind.

Das Musical «West Side Story» kommt auf seiner Europatournee in der Originalfassung der Uraufführung am New Yorker Broadway von 1957 zur Aufführung – inklusive Dekor. Die Backsteinfassaden mit den angebauten Metallfeuerleitern, die typisch für New York sind, lassen sich bewegen und bilden wandelbare Räume für Tanz und Schauspiel. Die projizierten Schwarz-Weiss-Fotografien verleihen dem Bühnenraum Tiefe, lassen Strassenschluchten entstehen oder werden zur Strassenecke, an der die beiden verfeindeten Gangs, die Jets und die Sharks, aufeinandertreffen.

Dreissig Stunden im Leben der Jets und der Sharks fängt das Musical ein – der sozialkritische Inhalt ist so universell wie aktuell geblieben: In der Upper West Side von Manhattan, einem dynamischen Unterschichts- und Immigrationsquartier der fünfziger Jahre, kommt es zu Querelen zwischen jugendlichen Strassengangs mit polnisch-amerikanischem respektive puerto-ricanischem Hintergrund. Die Nachkommen der vor zwei oder drei Generationen eingewanderten weissen Jets stehen den neu angekommenen farbigen Sharks gegenüber. Das «casual white» der Jets-Kleidung aus den fünfziger Jahren kontrastiert mit den grellbunten Anzügen der Sharks.

Die männlichen Gangmitglieder lassen die noch nicht besonders kräftig ausgebildeten Muskeln spielen, messen sich im tänzerischen und verbalen Kampf mit ihrem Gegenüber und der sie schikanierenden Polizei, wollen aber vor allem cool sein. Die weibliche Entourage auf beiden Seiten träumt von einem besseren Leben, von Liebe und Heirat. In Anlehnung an Shakespeares «Romeo und Julia» entspinnt sich zwischen Maria (die stimmgewaltige Jessica Soza) und Tony (Liam Tobin) eine Liebesgeschichte.

Maria und Tony gehören nur am Rand zu den verfeindeten Gangs. Beide wollen den sich abzeichnenden Kampf zwischen Jets und Sharks verhindern, scheitern aber mit ihren Bemühungen. Tony wird gar zum Mörder an Marias Bruder Bernardo (Charles South), der die Sharks anführt und vorgängig den Anführer der Jets erstochen hat.

Den Jugendlichen beginnt es langsam zu dämmern, dass sie eine gemeinsame Perspektivlosigkeit verbindet. Im Song «Gee, Officer Krupke» benennen sie ihren prekären sozialen Hintergrund und die grassierende Arbeitslosigkeit. Sie bezeichnen sich selbst als «soziobiologisch krank», und einer meint: «Jugendkriminalität ist eine soziale Krankheit. Selbst das Beste an uns ist schlecht.» Die Liebesgeschichte endet US-amerikanisch und nicht so tragisch wie bei Shakespeare. Sie lässt zwar neben drei toten Jugendlichen einige gebrochene Herzen zurück, aber Maria bleibt am Leben, und damit bleibt die Hoffnung auf Vergebung und eine gewaltfreiere Zukunft.

«Ich bin das Gesetz hier»

Der Broadway-Premiere von 1957 folgten ganze 732 Aufführungen; danach ging die «West Side Story» auf Tournee. Nur vier Jahre später dann wurde das Musical mit Natalie Wood als Maria verfilmt und endgültig zum Klassiker.

In der aktuellen Produktion im historischen Gewand von 1957 spielt das temperamentvolle Liveorchester unter der Leitung des Dirigenten Donald Chang die Musik Bernsteins. Die jugendlichen TänzerInnen bewegen sich gekonnt und mit grossem artistischem Geschick innerhalb des Rahmens, den die ursprüngliche Choreografie von Jerome Robbins vorgibt.

An der Premiere waren auch der vor fünf Jahren von den VolksvertreterInnen in Bern abgewählte Bundesrat und seine Frau anwesend. Wollten sie sich weiterbilden oder gar etwas dazulernen? Oder freuten sie sich einfach nur auf Leutnant Schrank (John Wojda), der sich mit folgenden Worten an die Sharks wendet: «Ich bin das Gesetz hier, ihr habt die falsche Hautfarbe, haut ab»? Die Sharks jedenfalls pfeifen die US-Nationalhymne «The Star-Spangled Banner» – um dabei den Jets zuzuraunen: «Ich will auch, dass hier aufgeräumt wird.»

«West Side Story» spielt täglich, ausser montags, bis zum 16. März im Theater 11 in Zürich Oerlikon. www.westsidestory.ch