Chinesischer Kapitalismus: Wenn China solo tanzt

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Welche Folgen hat der Wirtschaftsboom im Fernen Osten? Explodieren die Rohstoffpreise? Verarmt Europa? Wäre das schlimm?

WOZ: Herr Hirn, glauben Sie an eine Zukunft?

Wolfgang Hirn: An eine Zukunft im Westen?

An die Zukunft der Welt. Stimmt die These in Ihrem Buch - und stimmen die gängigen Analysen -, dann wird China in den nächsten zwanzig bis fünfzig Jahren zur wirtschaftlichen und militärischen Grossmacht, während Europa deindustrialisiert wird. Es kommt zum Konflikt zwischen China und den USA im Kampf um Ressourcen. Selbst Schrott wird zur Luxusware. Und die Umwelt kollabiert.

Ich glaube schon an eine Zukunft. Aber sie wird anders aussehen als die Realität heute. Es wird eine Verschiebung geben in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik - der Westen wird einen grossen Teil seiner Dominanz an den Osten abtreten müssen. Denn China und Indien nehmen jetzt aktiv an der Globalisierung teil.

Dann brechen für die Profiteure der ersten 150 Jahre Freihandel harte Zeiten an.

Der jetzige Prozess ist vor allem schmerzlich für die Arbeitnehmer im Westen. Sie werden die grossen Verlierer sein. Immer mehr Arbeitsplätze werden verlagert.

Warum ausgerechnet nach China?

Die Verschiebung begann im grossen Stil, als China der Welthandelsorganisation WTO beitrat. Investitionen wurden leicht gemacht. China hat zudem einen riesigen Markt: 200 bis 300 Millionen Chinesen sind in Kaufstimmung, Tendenz steigend. Es ist chic zu reisen. Es ist chic, reich zu sein. Doch vergessen Sie nicht: 800 bis 900 Millionen Chinesen sind noch immer bettelarm.

Nicht sehr brüderlich.

China ist kein kommunistisches Land mehr. Die Partei heisst zwar so, doch das ist bloss eine Reminiszenz.

Kein Kommunismus?

Kein Kommunismus. Die Situation in China ist vergleichbar mit derjenigen bei uns in den fünfziger Jahren: Der Kapitalismus blüht. Man ist hungrig und leistet sich erste, einfache Konsumgüter: einen Fernseher, später vielleicht ein Auto. Dann eine grössere Wohnung. Die Chinesen klettern dieselbe Konsumleiter wie wir hinauf - nur fünfzig Jahre verschoben.

900 Millionen Bettelarme! Welch Potenzial, muss der Unternehmer denken.

Das Potenzial ist riesig. Es gibt ja mittlerweile keines der einfachen Konsumgüter mehr, das nicht in China produziert wird. Auch die Autoindustrie wandert aus. Die deutschen Autohersteller sind schon alle vor Ort. Daimler, als letzter, baut gerade eine Fabrik. Was in China verkauft wird, wird dort produziert und nicht mehr importiert. Chinas Exporte florieren ebenfalls. Die USA zum Beispiel haben gegenüber China ein Handelsdefizit von über 200 Milliarden Dollar.

Es muss billig sein, in China zu produzieren.

Arbeiter bekommen oft nur 100 bis 200 Dollar Monatslohn. Aus Sicht der Unternehmen, ökonomisch-rational gedacht, ist die Verlagerung nachvollziehbar. Die moralische Dimension ist eine andere: Warum lagern lokale Unternehmen ihre Produktion aus? Interessieren sich die hiesigen Unternehmen gar nicht für das eigene Umfeld? Durch den Chinaboom steigt im Westen die Arbeitslosigkeit. Am Ende stellt sich die Frage: Wer soll hier eigentlich noch konsumieren, wenn nicht mehr produziert wird? Diese Frage stellen sich viele Unternehmer nicht, weil sie zu kurzfristig denken. Sie sehen ihren Vorteil in der günstigen Produktion an billigeren Standorten.

Was passiert mittelfristig?

Man kann es auf die Spitze treiben und fragen: Wie viel Arbeitslosigkeit verträgt eine Demokratie? Was passiert, wenn in Deutschland bald zehn Millionen Menschen arbeitslos sind? Und davon gehe ich aus. Auch in den USA wird die Arbeitslosigkeit weiter steigen. Es findet eine schleichende Deindustrialisierung statt. Die Firmen wandern gen Osten.

Was bleibt?

Forschung? Entwicklung? Daran glaube ich auch nicht mehr. Auch diese Bereiche werden ausgelagert.

Also auf nach China!

Wir müssen tatsächlich reagieren. Selbst Kommunistenhasser Milton Friedman, Vordenker der Neoliberalen, ist heute überzeugt, dass China in 75 Jahren die grösste Wirtschaft sein wird. Gewisse Experten sagen: Toll, wie Probleme in China durch die Entscheidungskraft des totalitären Regimes schnell gelöst werden. Letztes Jahr zum Beispiel wurde die Überhitzung der chinesischen Wirtschaft diskutiert. Also befahl die politische Führung den vier grössten Staatsbanken, die Kreditvergabe zu drosseln. Sie wurden angewiesen, bestimmten Branchen keine Kredite mehr zu gewähren. Von heute auf morgen. Stellen Sie sich das in einer Demokratie vor! Es gibt aber auch Experten, vor allem Demokratietheoretiker, die überzeugt sind, dass die Mischung aus einer Diktatur und einem freien Markt nicht funktioniert. Wenn die Leute zu Geld kommen, werden sie bald mehr Freiheiten verlangen.

Werden die Friedmans dieser Welt bald die Diktatur als einen ökonomischen Standortvorteil proklamieren? Wird der Westen mehr China?

Ich schliesse nicht aus, dass es eine Annäherung der Systeme geben wird, dass die Demokratie autoritärer werden könnte. Wenn die Arbeitslosigkeit im Westen weiter steigt, könnte dieses Szenario durchaus wieder eintreffen. Es gibt ja bereits antidemokratische Stimmen, die sagen: «Wenn wir konkurrenzfähig bleiben wollen, können wir uns Diskussionen und Verzögerungen nicht mehr leisten.» Was also tun, wenn die Konkurrenz schneller ist aufgrund einer autoritären Entscheidungsstruktur?

Was tun?

Wir stecken in einer Krise.

Profit über alles.

So scheint es.

Zurück zu den Stimmen, die sagen, China werde demokratisch.

In China hat es 2004 über 75 000 Unruhen gegeben. Die Landenteignungen von Bauern, um Platz zu schaffen für neue Industrieflächen, führen zu immer grösseren Widerständen. Es gibt auch grossen Widerstand gegen die vermehrte Umweltverschmutzung. Bisher sind das kleine, lokale Veranstaltungen ohne Vernetzung. Doch wenn es eine Verknüpfung der Widerstände gäbe und eine nationale Bewegung entstünde, dann wäre das eine grosse Gefahr für die Partei. Doch ich zweifle ein wenig an einer Revolution. Die Chinesen sind zurzeit vor allem darauf bedacht, die neuen Möglichkeiten zu nutzen und Geld zu verdienen.

Wie viele Industrialisierungen verträgt die Umwelt eigentlich noch?

Da müssen Sie einen Umweltfachmann fragen. Zumindest aber hat das staatliche China inzwischen ein Umweltbewusstsein entwickelt. Das bedeutet aber nicht, dass die Fehler, die der Westen im Rahmen seiner Industrialisierung gemacht hat, nicht wiederholt werden. Das Hauptproblem dabei ist, dass der chinesische Industrialisierungsprozess von einer ganz anderen Dimension ist. Wenn in China bald eine ähnliche Motorisierung stattfindet wie bei uns, dann kollabiert die Umwelt. Eine Milliarde neuer, benzinbetriebener Autos verträgt die Umwelt nicht. Doch was sollen wir uns beschweren? In der Schweiz hat fast jeder ein Zweitauto. Da kann man jetzt schlecht nach China gehen und sagen: Wir haben schon zu viele Autos, ihr dürft deshalb nicht.

Kollaps. Apokalypse. Aus.

Warum denn? Ich bin zwar kein Experte in Sachen Antriebstechniken. Doch selbst ich weiss, dass diese weit entwickelt sind. In diesen Bereichen muss viel passieren; ob im Wasserstoff- oder im Hybridmotorenbereich. Rohstoffe wie Öl werden mit dem Aufschwung Chinas sowieso sehr schnell knapp.

Sogar in der Schweiz ist der Stahlpreis aufgrund der grossen Nachfrage Chinas seit Mai 2003 um fünfzig Prozent gestiegen. Was frisst denn so viel Stahl?

Stahl ist neben Öl der wichtigste Grundstoff einer Wirtschaft. Allein der Bauboom: Da entstehen im Nu Millionenstädte, wo vorher Sumpf war. Diese Entwicklung hat auch positive Aspekte: Stahl hat wieder an Wert gewonnen. In den letzten Jahren ist Stahl vor allem mit Massenentlassungen in Zusammenhang gebracht worden. Dieser Umschwung ist einer der für uns positiven Aspekte. Übrigens wird sich auch die hiesige Tourismusbranche ob der Entwicklung freuen: Die Chinesen haben die Japaner im Reisen bereits überholt.

China kauft in der Welt fleissig Schrott, um daraus Stahl zu produzieren. Fast die Hälfte des vorhandenen Stahls wird durch Wiederverwertung von Stahlschrott produziert. Bei Öl geht das nicht.

Chinas eigene Ölförderung reicht schon lange nicht mehr aus. Bislang kauften die Chinesen in Ländern, welche die USA nicht sonderlich interessierten: Angola, Sudan, Venezuela. Die Chinesen werden im Nahen Osten stärker als Käufer auftreten. Schon jetzt sind sie in Saudi-Arabien sehr aktiv. Dies passt den USA überhaupt nicht. Sie betrachten das Königreich als ihr Heimterritorium. Die Chinesen kaufen sich zudem im Iran ein, was die Amerikaner noch mehr stört. China ist jedoch genug mächtig, um die Vorbehalte der USA ignorieren zu können. Zentralasien wird im Rahmen der Ölförderung ebenfalls in den Fokus geraten. Auch hier ist noch nicht klar erkennbar, wer sich durchsetzen wird. Die USA haben den ersten Schritt gemacht. Sie haben den Irak besetzt und haben somit den Fuss in der Tür. Dasselbe in Afghanistan. Es wird zwangsläufig zu Konflikten um Ressourcen zwischen China und den USA kommen. Doch wie weit die eskalieren werden, ist jetzt nicht absehbar.

Im Buch «Herausforderung China» schreiben Sie: «Was, wenn ein Land nahezu alles herstellen kann, und zwar zu unschlagbaren Preisen. Das ist in der schönen heilen Welt der Freihandelstheorie nicht vorgesehen.»

Die Freihandelstheorie besagt, dass, wenn zwei Nationen miteinander Handel treiben, viele Nationen davon profitieren. Das ist die Basis der Globalisierung. Was jetzt passiert, hat eine neue Qualität: Aufgrund seiner Grösse kann zum ersten Mal ein Land alles selber und günstiger herstellen. Chinesische Unternehmen müssen ihre Produktion nicht ins Ausland verlagern. Die Verlagerung passiert im riesigen Inland. Dies geschieht jetzt schon: Aus Schanghai wandern viele Firmen in den Westen Chinas, weil Schanghai zu teuer geworden ist.

Wenn 800 bis 900 Millionen Menschen sofort bereit sind, für ein bis zwei Dollar am Tag zu arbeiten, ist es kein Problem, Arbeitskräfte zu finden. In vielen Fabriken herrschen Bedingungen wie im Manchester-Kapitalismus. Der Profit geht über alles, die sozialen Belange der Arbeiter und Arbeiterinnen zählen kaum oder gar nicht. Natürlich ist die Sache nicht so einfach. Denn der Blick ist vor Ort ein anderer. Der Blick eines Bettelarmen sagt: Ich wohne in der Fabrik, spare von den 120 Dollar Monatslohn die Hälfte und schicke diese in mein Heimatdorf, wo ich meinen Kindern damit vielleicht eine Ausbildung ermögliche.

Der Freihandel frisst sich auf?

Die Zukunft wird die Frage beantworten: Was bleibt uns im Westen, wenn ein solch grosses Land alles selber herstellen kann? Es gibt Leute, die sagen: «Wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind.» Das ist eine banale Erkenntnis, aber sie trifft den Kern der Sache. Die Freihandelstheorie hat ja nie weltumspannend funktioniert. Die Dritte Welt hat bisher fast ausschliesslich verloren. Meine Bedenken sind solche aus der Sicht eines Deutschen, eines Westlers. Die Dritte Welt hat am Freihandel bisher gar nicht richtig teilgenommen. Jetzt plötzlich sind China und auch Indien auf den Plan getreten. Es ist nicht gottgegeben, dass es uns im Westen ewig auf Kosten anderer gut gehen kann. Unser Lebensstandard wird zurückgehen. Global gesehen führt die jetzige Entwicklung wohl zu einem ausgeglicheneren Verhältnis.


Wolfgang Hirn: Herausforderung China. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2005. 255 Seiten. Fr. 26.80

Wolfgang Hirn, geboren 1954, studierte Volkswirtschaftslehre und Politische Wissenschaften in Tübingen. Danach arbeitete er als Wirtschaftsredaktor für den «Kölner Stadtanzeiger» und die «Wirtschaftswoche». Zurzeit ist er Reporter beim «Manager Magazin». Seit 1986 reist er regelmässig nach China.