Britannien: In der «Corbynmania»

Nr. 37 –

Jeremy Corbyn gilt als Favorit für die Wahl des Labour-Vorsitzenden vom Samstag – trotz plumper Verunglimpfungen und düsterer Warnungen.

Der Mann, der derzeit in Westminster für nacktes Entsetzen sorgt, kaut noch an seinem Snack, als ihn ein Rudel von ReporterInnen umringt und mit Fragen bombardiert. Gekleidet in eine schlichte blaue Jacke, in der rechten Hand einen Pappbecher mit Kaffee, beginnt Jeremy Corbyn, geduldig und mit leiser Stimme Antwort zu geben. Neben britischen JournalistInnen sind an diesem Mittwochnachmittag deutsche, spanische und französische Fernsehteams zum Universitätscampus von Colchester gereist, um das Phänomen «Corbynmania» zu erleben.

Nachdem es der 66-Jährige im Juni knapp geschafft hatte, sich für den Wettkampf um den Labour-Vorsitz zu qualifizieren (siehe WOZ Nr. 26/2015 ), ist Corbyn entgegen allen Prognosen zum Spitzenreiter aufgestiegen. Meinungsumfragen zufolge wird er am Samstag zum neuen Parteichef gewählt.

Keine Spenden von Unternehmen

Die anfängliche Belustigung der Medien und vieler PolitikerInnen über die Kandidatur des Altlinken ist schon lange verflogen. An ihre Stelle sind plumpe Verunglimpfungen und düstere Warnungen getreten. Schatzkanzler George Osborne meinte etwa, dass Corbyn wegen seiner Ablehnung des britischen Atomwaffenarsenals die nationale Sicherheit gefährde. Ehemalige Parteigrössen aus den eigenen Reihen hingegen sorgen sich um die «Wählbarkeit»: Laut Peter Mandelson, einem der Schöpfer von New Labour, wäre Corbyn das letzte Kapitel in der Geschichte der Partei.

Im Gegensatz dazu sind der Kandidat und seine AnhängerInnen während der Frage-und-Antwort-Stunde in Colchester in Aufbruchstimmung. Hier ist keine glatte Parteimaschinerie am Werk, sondern eine Basisbewegung: Dutzende freiwillige HelferInnen in roten T-Shirts empfangen die BesucherInnen. Die Kampagne hat keine Spenden von Unternehmen angenommen und setzt stattdessen auf Crowdfunding und den Enthusiasmus der AktivistInnen: Im ganzen Land haben sich in den vergangenen drei Monaten 15 000 Freiwillige für den Parlamentsabgeordneten aus Islington North engagiert, haben Wahlbroschüren verteilt, Veranstaltungen organisiert und stundenlang mit Labour-WählerInnen telefoniert.

Die knapp tausend Anwesenden im Vorlesungssaal reichen von Teenagern bis zu älteren Labour-Anhängerinnen, die sich nach dem Richtungswechsel der neunziger Jahre hin zur politischen Mitte kaum noch mit der Partei identifizieren konnten. Katrina Parker etwa, Mitte vierzig, sah bei der Parlamentswahl im Mai keinen Grund, ihre Stimme Labour zu geben, aber unter Corbyn wäre dies anders: «Er bietet jene Alternative, nach der wir seit einer Generation suchen. Und er kann Nichtwählende dazu bringen, ins Wahllokal zu gehen.»

Der achtzehnjährige Robin Frankin, der in einigen Wochen sein Studium beginnen wird, hat sich nicht als Wähler registriert, aber er glaubt, dass Corbyn von den vier Kandidaten der einzige ist, der Labour bei der nächsten Wahl zu einem Sieg führen könnte: «Er ist ehrlich und prinzipienfest. Das kommt bei den Leuten an.»

Konzessionen an den rechten Flügel?

Dennoch wird sich Corbyn im Fall eines Siegs einer Reihe von Problemen gegenübersehen: Die grosse Mehrheit der Parlamentsabgeordneten lehnt seine politischen Ideale ab: Lediglich 20 von 231 Labour-Abgeordneten unterstützen sein linkes Programm. Mit seiner Kritik an der britischen Nato-Mitgliedschaft beispielsweise wird Corbyn unter starken Druck geraten, sowohl von innerhalb wie auch von ausserhalb der Partei. Was wird er bewirken können? Ist er zu Konzessionen an den rechten Labour-Flügel bereit? Auf die entsprechende Frage der WOZ antwortet er: «Alle politischen Programme müssen debattiert werden, und sie werden in einem demokratischen Prozess entschieden. Wir wählen hier keinen Diktator, sondern einen Parteivorsitzenden. Und in meinem Fall wäre es ein Vorsitzender, der die Partei demokratischer gestalten will.»

Die Labour-Partei demokratisieren will Corbyn beispielsweise, indem er in Zukunft seine WählerInnen stärker in politische Entscheidungen miteinbezieht. Die breit abgestützte Basisbewegung wird ihm dabei helfen, denn der neue Labour-Chef wird ein stärkeres Mandat haben als seine VorgängerInnen: Seit Mai ist die Partei um 100 000 Mitglieder auf 300 000 gewachsen, dazu haben sich etwa 120 000 WahlhelferInnen angemeldet; weitere 190 000 Wahlberechtigte haben sich über ihre Gewerkschaft registriert. Laut Umfragen werden die meisten neu eingetragenen WählerInnen ihr Kreuz bei Corbyn machen.

Nach der stehenden Ovation am Ende der Veranstaltung hält die aufgeregte Stimmung im Publikum an. Die Anwohnerin Beth Rogan, die mit ihrer Mutter gekommen ist, zweifelte bislang, ob Labour mit Corbyn an der Spitze die Konservativen schlagen könne. «Jetzt bin ich mir sicher, dass er es kann – er hat mich sehr beeindruckt. Er spricht Klartext. So können wir gewinnen.»

Peter Stäuber lebt seit 2010 in London und ist Britannienkorrespondent der WOZ.