Britannien: Schottisches Drunter und Drüber

Nr. 37 –

Nach dem Brexit-Votum schien es nur eine Frage der Zeit, bis die SchottInnen den Austritt aus dem Vereinigten Königreich erneut forcieren würden. Inzwischen aber ist die politische Landschaft durcheinandergewirbelt worden.

Britischer Nationalismus, aggressiv und roh, begegnet einem zuweilen dort, wo man ihn kaum erwartet hätte: zum Beispiel in einem Café in Dalmarnock, einem Arbeiterviertel im Osten Glasgows. Rab, ein glatzköpfiger Mann Mitte dreissig, stützt beide Ellbogen auf den Tresen und sagt mit schottischem Akzent: «Jetzt hör mal zu: Ich bin nicht schottisch, sondern britisch, britisch, britisch!» Natürlich habe er im Referendum vor drei Jahren gegen die Unabhängigkeit Schottlands gestimmt, und selbstverständlich sei er für den Brexit – sein Land müsse vor EinwanderInnen und dem Diktat Brüssels geschützt werden.

Rab betrachtet sich als Teil der Arbeiterklasse und beschuldigt Margaret Thatcher, in Schottland einen «industriellen Genozid» begangen zu haben. Und für wen stimmte er in der Wahl im vergangenen Juni? «Das wird dich umhauen: für die Tories. Weil sie die Partei der britischen Union sind.»

Die SNP-Vorherrschaft ist passé

Solche Gespräche zeugen davon, dass es in Schottland derzeit drunter und drüber geht: Der Brexit, Labour-Chef Jeremy Corbyn und wiedererstarkende Konservative haben die Politik gehörig durchgeschüttelt. Dabei schien die Situation nach dem EU-Referendum noch eindeutig. Die SchottInnen hatten im Gegensatz zu den EngländerInnen für den Verbleib in der EU gestimmt, mit einer Mehrheit von 62 Prozent. Eigentlich hätte diese proeuropäische Stimmung auch die Unabhängigkeitsbewegung stärken müssen: Um zu verhindern, dass sie von den Tories in den Brexit-Abgrund gezerrt werden, würden sich die SchottInnen vom Vereinigten Königreich abspalten, um Teil Europas bleiben zu können – so jedenfalls die landläufige Erwartung.

Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands und Vorsitzende der Unabhängigkeitspartei Scottish National Party (SNP), hatte denn auch ein neues Referendum in Aussicht gestellt. Im Juni machte sie jedoch einen Rückzieher. Denn den SchottInnen fehlt der Appetit auf ein «Indyref 2». Laut Umfragen wollen weniger als 30 Prozent ein zweites Referendum, und in den vergangenen Monaten ist die Zustimmung zur Unabhängigkeit kaum je über 45 Prozent gestiegen, also jenen Anteil, der vor drei Jahren «Yes» stimmte.

Auch scheint die Zeit der absoluten Vorherrschaft der SNP in Schottland vorbei: In der Parlamentswahl vom Juni verlor sie ein Drittel ihrer Sitze in Westminster. Die Parteien der Union hingegen sind auf dem Vormarsch: Labour gewann sieben Sitze, und die Konservativen, die nach der Thatcher-Ära praktisch von der politischen Landkarte getilgt wurden, ergatterten dreizehn Mandate.

Wettbüros, Pfandleihen, Billigläden

Ist also die Vision von einem unabhängigen Schottland Geschichte? «Auf keinen Fall», sagt Clare Haughey in ihrem Büro in Rutherglen, einem Vorort südlich von Dalmarnock. Die gelernte Krankenpflegerin, die seit 2016 für die SNP im Regionalparlament in Edinburgh sitzt, ist überzeugt, dass eine erneute Abstimmung irgendwann wieder auf der Tagesordnung steht. Nur könne das etwas dauern: «Im Moment ist die politische Lage zu unsicher. Die Leute haben keine Ahnung, was wegen des Brexit auf sie zukommen wird.» Angesprochen auf den Verlust von 21 Sitzen in den Wahlen vor drei Monaten, entgegnet sie, dass die SNP nach wie vor die grösste Partei in Schottland sei; noch immer locke sie die Leute mit einem sozialdemokratischen Programm, das die Auswirkungen der Sparpolitik in Westminster zu mindern versuche.

Geht man die Hauptstrassen von Rutherglen und Dalmarnock entlang, vorbei an den Wettbüros, Pfandleihgeschäften und Billigläden, sieht man, dass diese Politik nur begrenzt wirksam ist: Manche Quartiere in Glasgow zählen zu den unterprivilegiertesten im Land, nirgendwo wachsen so viele Kinder in Armut auf wie in dieser Stadt, und nirgendwo ist die Lebenserwartung so gering. Gerade hier war das Unabhängigkeitsvotum stark. Jetzt ist hier Labour auf dem Vormarsch: Drei Sitze der Metropolregion schnappte die Partei der SNP weg. In einer Studie Ende August ermittelte das Forschungsinstitut Britain Elects, dass Labour in der Stadt seither noch mehr Zustimmung gewonnen hat und im Fall von Neuwahlen drei weitere Sitze gewinnen würde.

Einer davon ist Glasgow North, wo die Labour-Kandidatin Pam Duncan-Glancy im Juni nur knapp verlor. «Jeremy Corbyn spielte sicherlich eine grosse Rolle bei unserem Erfolg», sagt die 35-Jährige. «Wir hatten ein starkes Wahlprogramm, das einen höheren Mindestlohn und mehr Geld für den Service public versprach. Damit konnten wir die Leute für uns gewinnen – das ständige Gerede der SNP von der Unabhängigkeit hatten sie gründlich satt.»

Die Tories stoppen ihren Niedergang

Aber nicht nur die Linke profitierte von der Ablehnung eines erneuten Referendums: Unter der moderaten Vorsitzenden Ruth Davidson stoppten die schottischen Konservativen ihren jahrzehntelangen Niedergang und gewannen bei all jenen Leuten Stimmen, die unbedingt Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wollen. Dazu kamen Brexit-BefürworterInnen: Rund ein Drittel der SNP-WählerInnen stimmten für den EU-Austritt, und die Europaeuphorie der Parteiführung hat anscheinend einen Teil von ihnen in die Arme der Tories getrieben – oder sie davon abgehalten, ins Wahllokal zu gehen.

Kompliziert wird die Sache dadurch, dass die schottischen Tory-Abgeordneten bis auf wenige Ausnahmen europafreundlich sind. Davidson selbst profilierte sich während des EU-Referendums als lautstarke Befürworterin der «Remain»-Kampagne. So werden die schottischen Tories in den kommenden Monaten wohl zur innerparteilichen Opposition zu Theresa Mays «hartem» Brexit zählen.

Auch bei Labour spielte die relative Eigenständigkeit der Regionalpartei eine Rolle. Hier wirkte sie als ein Dämpfer der «Corbyn Mania»: Scottish Labour fuhr unter der Vorsitzenden Kezia Dugdale zwei Jahre lang einen Kurs in der politischen Mitte, der es der SNP erlaubte, als die progressivere Kraft aufzutreten. Ende August trat Dugdale überraschend zurück – möglich, dass der Vorsitz im November an einen Vertreter oder eine Vertreterin des linken Flügels geht, der oder die eher auf der politischen Linie des Parteivorsitzenden in London ist.

Corbyn weckt neue Hoffnungen

Vor allem stellt sich die Frage, was mit der Graswurzelbewegung für die Unabhängigkeit geschieht. Diese Tausenden Aktivisten und Wählerinnen, die sich etwa zur Radical Independence Campaign (RIC) zusammenschlossen, setzten sich 2014 für eine Abspaltung von England ein, aber nicht aus nationalistischem Impuls, sondern weil sie sich von einem eigenständigen Schottland eine gerechtere Gesellschaft versprechen. Nur als unabhängiger Staat, so RIC, könne sich Schottland vom Neoliberalismus verabschieden. Hat der Erfolg Corbyns dieser Argumentation den Wind aus den Segeln genommen?

Jonathon Shafi sitzt in einem Café beim Hauptbahnhof und kratzt sich am Bart. Der Glasgower ist ein Gründungsmitglied von RIC, heute arbeitet er für eine Gesellschaft für eine Wahlrechtsreform. «Corbyn repräsentiert eine gewaltige Verschiebung im Vergleich zu 2014. Ein Teil der Bevölkerung glaubt, dass ein gesellschaftlicher und politischer Wandel jetzt via Westminster möglich sei – das heisst, wenn Corbyn Premierminister wäre.» Schliesslich setzt sich der Labour-Vorsitzende genau für jenen sozialdemokratischen Umbau des Landes ein, den auch die linken «Yes»-Anhänger gefordert hatten.

Dass sich so viele Leute von der SNP abgewandt hätten, sagt Shafi, habe auch damit zu tun, dass die Partei ihr radikales Image, mit dem sie im Jahr nach dem Referendum triumphierte, sukzessive abgelegt habe – etwa in der Frage nach einer gerechteren Verteilung von Grundbesitz. Gleichzeitig sei Labour nach links gerückt.

Eine linke Massenbewegung?

Die Frage der Unabhängigkeit sei jedoch nicht mehr aus der schottischen Politik wegzudenken. «Denn der britische Nationalismus, das Establishment in Westminster und der britische Staat sind Hindernisse für Corbyns radikales Programm», sagt Shafi. «Wenn er an die Macht käme, dann würden die Konzerne, die Banken und all die anderen Kapitalinteressen ihre Reihen schliessen und die Politik zu bestimmen versuchen.» Um das zu verhindern, sei eine riesige Basisbewegung der Arbeiterklasse notwendig – in England und in Schottland –, um einer Corbyn-Regierung Rückendeckung zu geben und sie nach links zu drücken. «Wenn das nicht klappt, wenn also Labour an der Macht ist, aber vom britischen Staat gelähmt wird, dann wird die nationale Frage sofort wieder auftauchen», glaubt Shafi.