Kommentar von Peter Stäuber, London: Das Bindeglied von der Strasse zum Parlament

Nr. 33 –

Wird die Labour-Partei in Britannien ewig die Oppositionsbank drücken müssen, wenn der dezidiert linke Jeremy Corbyn Parteivorsitzender bleibt? Wohl kaum.

Da sind sie also, die Leute, die mal als Sektenanhänger verhöhnt, dann als Fanklub belächelt und dann wiederum als trotzkistische Eindringlinge oder gar als Jeremy Corbyns «Sturmabteilung» gebrandmarkt werden: ältere Leute in Rollstühlen, Teenager in Schuluniformen, Hipster mit Fahrrädern und Bärten, Menschen afrokaribischer, pakistanischer und lateinamerikanischer Herkunft, Männer und Frauen in Anzügen oder Shorts. Die rund tausend AnhängerInnen des britischen Labour-Parteichefs, die sich am Montag zur Wahlkampfveranstaltung im Londoner Stadtteil Islington einfanden, sehen ganz so aus wie die durchschnittliche Londoner Bevölkerung.

Diese ganz normalen Menschen sind es, die die Mehrheit der Labour-Fraktion im Unterhaus und die etablierten Medien derzeit in Panik versetzen. Für sie gelten Jeremy Corbyns UnterstützerInnen als eine Bedrohung, denn – so lautet die Argumentation – sie machen Labour auf Dauer unfähig, eine Mehrheit im Staat zu erringen, und schaden somit nicht nur der Partei, sondern auch dem Land, das keine wirksame Opposition mehr habe. «Wir müssen eine Labour-Regierung in Wartestellung sein, keine Protestbewegung», sagt der konturlose Waliser Owen Smith, der Corbyn den Posten des Parteivorsitzenden streitig macht und im Gegensatz zu ihm den Rückhalt der Fraktionsmehrheit hat.

Unterdessen werden Corbyns AnhängerInnen nicht nur von verschiedenen Parteigrössen diffamiert, sondern auch mit zweifelhaften Mitteln davon abgehalten, an der vom 22. August bis zum 21. September dauernden Abstimmung über die Frage teilzunehmen, ob Corbyn Parteichef bleiben soll: Die Parteileitung setzte vergangene Woche vor Gericht durch, dass Zehntausende Neumitglieder, von denen vermutlich viele für den jetzigen Vorsitzenden stimmen wollten, von der Wahl ausgeschlossen bleiben.

Trotz des Gerichtsentscheids stehen Corbyns Chancen, wiedergewählt zu werden, gut. Bereits haben sich die zwei grössten Gewerkschaften, Unite und Unison, auf seine Seite geschlagen, und von den Parteiverbänden in den einzelnen Wahlkreisen haben sich 84 Prozent für den Altlinken ausgesprochen. Wie im vergangenen Sommer lockt «Jez» Corbyn bei seinen Auftritten massenweise ZuhörerInnen an. Und meist wird er wie am Montag in Islington mit begeisterten «Jez we can»-Rufen empfangen.

Angesichts der Tatsache, dass sich die Zahl der Parteimitglieder seit seiner Kandidatur im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt hat – von rund 200 000 auf über 500 000 –, mutet der Vorwurf der Unwählbarkeit merkwürdig an. Sicher schneidet Labour in Umfragen derzeit schlecht ab: Ende Juli lagen die Konservativen sechzehn Prozentpunkte vorn. Doch einerseits lässt sich dies aus dem üblichen Umfragehoch erklären, das eine neue Regierung erzielt (der Vorsprung ist mittlerweile geschrumpft), und andererseits dürften die schlechten Werte für Labour mindestens so viel mit der Zerrissenheit der Partei zu tun haben wie mit Corbyn selber.

Zudem stärken die vielen neuen Mitglieder die Partei. Bleibt Jeremy Corbyn Parteivorsitzender, werden sie bei den nächsten Wahlen nicht passiv bleiben, sondern Klinken putzen, Wahlzettel verteilen und die Leute von ihrer Politik zu überzeugen versuchen. Die wachsende Zahl der Labour-Angehörigen ist auch ein Ausdruck der neuen Dynamik in der Partei: Der Parteichef operiert nicht mit einer manipulativen Medienstrategie und aalglatter Rhetorik im Stil des früheren Premiers Tony Blair. Stattdessen überzeugt er die Leute mit konkreten Vorschlägen: mehr Investitionen in den öffentlichen Dienst, höhere Löhne oder Massnahmen gegen die Exzesse des Finanzkapitalismus. Entscheidend ist, dass Corbyn in diesem Bestreben einen Bogen spannt zwischen Westminster und den Basisbewegungen auf der Strasse: Auf diese Weise vermag er, Leute zu gewinnen, die sich während der Regierungsjahre von New Labour von der Parteipolitik verabschiedet hatten.

Ohne Zweifel hat Jeremy Corbyn Fehler gemacht. Er hätte beispielsweise sein politisches Programm klarer ausformulieren können. Dennoch hat er es in den elf Monaten als Vorsitzender geschafft, die Positionierung der Partei zu verschieben. Das zeigt sich im Wahlkampf ganz deutlich: Owen Smith versucht, sich mit möglichst linker Politik bei der Parteibasis anzubiedern, und hat viele Vorschläge seines Widersachers übernommen. Authentisch klingt das beim ehemaligen Pharmalobbyisten Smith jedoch nicht. Mit Ausnahme der unilateralen Abrüstung, für die sich Corbyn seit Jahrzehnten einsetzt, gibt es aber kaum eine politische Frage, bei der sich Smith vom Parteivorsitzenden abzugrenzen versucht. «Ich werde genau so radikal sein wie Corbyn», sagte er.

Auch wenn Corbyn die Wahl wider Erwarten verlieren sollte: Die Labour-Partei hat er bereits nachhaltig verändert.