Die Krise der Freiwilligenarbeit: Ein getarntes Männerprivileg

Freiwilligenarbeit sei «ein getarntes Privileg», sagte an dieser Stelle Isidor Wallimann. Seine Argumentation führt zu falschen Schlüssen, weil er «Freiwillige» sagt, aber Frauen meint. Eine Entgegnung.

Die Polemik des Ökonomen und Soziologen Isidor Wallimann galt all jenen, die unbezahlt öffentliche Sozialarbeit leisten (siehe WoZ Nr. 19/01). Sie erledigten «keine Putzarbeiten; sie pflegen die Gebrechlichen nicht, sie bringen ihnen Weihnachtsgeschenke. Ihre Hilfe erfolgt aus einer sicheren gesellschaftlich anerkannten Position und trifft unsichere Randexistenzen.» Mehr noch: Sie profitierten «vor allem selber von ihrer freiwilligen Tätigkeit»: «Die meisten Freiwilligen gehören einer in jeder Hinsicht privilegierten Gruppe an. Sie haben überdurchschnittlich viel Freizeit, Einkommen, Vermögen, Bildung und Status. Von all ihren Privilegien treten sie leider das falsche ab – die freie Zeit. Mit ihrer Gratisarbeit drücken sie die Löhne und verhindern die Entstehung neuer Arbeitsplätze. Dies ist umso schlimmer, als ihre zumeist unqualifizierte Tätigkeit auch von Working Poor, unterbeschäftigten Frauen und Männern oder Arbeitslosen erbracht werden könnte, die um einen gesetzlich gesicherten Mindestlohn froh wären. Die Lohnkosten könnten aufgebracht werden, wenn die Freiwilligen Geld abgeben würden statt Zeit.» Dazu komme, dass durch diese Freiwilligenarbeit Kosten verursacht würden, denn die Freiwilligen müssten «eingeführt, koordiniert, administriert, betreut, kontrolliert und mit Anerkennungsgeschenken bei Laune gehalten werden. Da sie Erwerbswillige verdrängen, verursachen sie auch sozialpolitisch Mehrkosten.» Schliesslich bringe den Freiwilligen ihr Engagement «gesellschaftliche Legitimation, Statusgewinn und Beziehungen»: «Freiwilligentätigkeit hilft gegen Isolation oder Depression, stillt die Neugier und kann bei Berufsfindungs- oder Wiedereinstiegsproblemen von Nutzen sein. Und für diesen Therapie-, Freizeitgestaltungs- oder Bildungsnutzen müssen die Freiwilligen nicht einmal etwas bezahlen.»

Der Skandal dieser Schilderung besteht darin, dass sie von Freiwilligen spricht, aber Frauen meint: In der karitativ-sozialen Freiwilligenarbeit engagieren sich fast ausschliesslich Frauen, in der Kirche beispielsweise zu über 90 Prozent. Wallimanns Anliegen ist es, gegen staatlichen Sozialabbau zu polemisieren und gegen die neoliberale Ansicht, dass Sozialprobleme durch zivilgesellschaftliches Engagement angegangen werden müssten und nicht durch gezielte staatliche Politik der Existenzsicherung für alle. Gesellschaftliche Randgruppen hätten ein Recht auf Existenzsicherung und dürften nicht schikaniert, auf Wohltätigkeit verwiesen und deren Demütigungen ausgesetzt werden.

Einverstanden. Nur rechtfertigt dieses Anliegen nicht die unsäglich sexistische Argumentation, die zudem zu falschen Schlüssen führt. Sie zeigt, wie wichtig Geschlechterverhältnisse als analytische Kategorie in ökonomischen Debatten wären – auch für Linke und sozial Gesinnte.

Die Gratisarbeit der Männer

Was Wallimann in seiner Freiwilligenpolemik karikiert, sind die Einkommen und der berufliche Status der Ehemänner der karitativ-sozial arbeitenden Frauen und nicht diese selbst: Derzeit verfügen Frauen in der Schweiz über 27 Prozent des Erwerbseinkommens, Männer über 73 Prozent. Es sind also vor allem die Männer, die über Geld verfügen, das sie nicht an Arme weitergeben. Aber nicht nur das, Männer verfügen auch über bedeutend mehr Freizeit als Frauen, die sie aber – falls überhaupt – nicht karitativ-sozial einsetzen, sondern vorwiegend für den Sport, für die Politik und die Interessenverbände oder allenfalls in Gremien karitativ-sozialer Institutionen. Männer engagieren sich in all jenen unbezahlten Tätigkeiten, die den Ausbau der Netzwerke fördern, berufliche Kontakte vermitteln oder Weiterbildung und Sozialprestige ermöglichen. Für diese Arbeit, die das Uno-Jubeljahr zur Freiwilligenarbeit mit einschliesst, werden zudem – das haben kirchliche Untersuchungen gezeigt – Spesen wesentlich häufiger vergütet als bei den finanziellen Aufwendungen, welche Frauen bei ihrer karitativ-sozialen Tätigkeit entstehen.

Alle, die mit Frauen zusammenarbeiten, kennen das Problem der knappen Zeit und der damit verbundenen Aufstückelung ihres Engagements. In Kirchen beispielsweise engagieren sich viel mehr Frauen als Männer mit Gratisarbeit, aber durchschnittlich mit wesentlich weniger Stunden pro Woche. Das, was Frauen mit ihrer karitativ-sozialen Freiwilligenarbeit den Kirchen und dem Staat an Koordinationskosten verursachen, hat unter anderem mit ihrer Zeitknappheit zu tun. Insofern benennt Wallimann ein reelles Problem der Organisation einer kontinuierlichen Freiwilligenarbeit.

Allerdings hat er nur beschränkt Recht. Denn auch Lohnabhängige verursachen Überwachungs-, Koordinations-, Bildungs-, Motivationskosten und Spesen, nicht nur die Freiwilligen. In der Argumentation steckt deshalb als grundlegender ökonomischer Denkfehler die fehlende Unterscheidung zwischen Betriebskosten, die überall entstehen, und Lohnkosten, die es nur bei bezahlter Arbeit gibt.

Ich behaupte, dass heute Freiwilligen- und auch Familienarbeit hochgejubelt wird, weil sie einerseits in einer Krise stecken und neue gesellschaftliche Probleme entstehen aus Mangel an einer ebenso kostengünstigen Alternative. Andererseits geht es um den neoliberalen Abbau des Sozialstaates. Wallimann schreibt nur über den zweiten Aspekt. Der eine kann heute aber nicht ohne den anderen analysiert werden.

Working Poor werden Hausfrauenersatz

Das Ausspielen der Problematik der Freiwilligenarbeit gegen eine staatlich geregelte vernünftige Sozialpolitik verdeckt die neuen gesellschaftlichen Widersprüche, welche mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frauen entstanden sind. Die karitativ-soziale und ehrenamtliche Arbeit der Frauen im Freiwilligenbereich ist ein kleiner Teil der unbezahlten Arbeit: Sie macht knappe zwei Prozent der Arbeitszeit der Frauen im Haushalt aus und nicht einmal die Hälfte der nicht institutionalisierten freiwilligen Tätigkeiten der Frauen ausserhalb des Haushaltes (Nachbarschaftshilfe, Hilfe für Angehörige und Befreundete ausserhalb der eigenen Haushalte). Bei Männern macht die vorwiegend ehrenamtliche Arbeit mehr als das Doppelte der Arbeitsstunden von Nachbarschaftshilfe aus und rund sieben Prozent ihrer unbezahlten Arbeit in Haushalt und Familie. Der Blick von Wallimann auf die Zeitökonomie der Frauen ist offensichtlich von Männerverhältnissen geprägt.

Geputzt und Gebrechlichen bei der Bewältigung ihres Alltags geholfen wird nicht in der institutionalisierten Freiwilligenarbeit: Wenn es nicht die Frauen zu Hause und bei Bekannten und Verwandten tun, dann tun es vorwiegend Erwerbstätige. Und dabei bekommen sie Löhne, die sie zu Working Poor machen. Weil immer mehr haushaltsnahe Arbeit kommerzialisiert wird, gibt es immer mehr Working Poor – und nicht deshalb, weil ihnen diese Arbeit weggenommen wird. Wallimann spielt die Working Poor gegen karitativ-sozial engagierte Frauen der Mittelschicht und der Oberklasse aus und konstruiert so ein Klassenproblem und Interessenwidersprüche, die es zwar gibt, aber nicht so, wie er meint.

Für alle voll Erwerbstätigen – also vorwiegend für die Männer – geht es darum, dass die tägliche Dreck- und Versorgungsarbeit möglichst billig zu haben ist. Und wenn diese Arbeiten nicht vorwiegend Frauen unbezahlt verrichten, dann tun es eben schlecht bezahlte Angestellte – wiederum vorwiegend Frauen. Das ist die ökonomische Formel des heutigen Systems, und darin besteht ein Teil des so genannten «Jobwunders» in den USA. Dadurch, dass immer mehr Frauen in den USA voll erwerbstätig sind, sind immer mehr meist sehr schlecht bezahlte Jobs mit haushaltsnahen Dienstleistungen entstanden.

Working Poor gibt es also nicht zuletzt deshalb massenweise, weil ein Teil der bisher unbezahlten Versorgungsarbeit nicht mehr in Haushalten gemacht wird und der Arbeitsmarkt der traditionell miserabel bezahlten persönlichen Dienstleistungen enorm expandiert. Hierzulande wird diese Arbeit vorwiegend delegiert an MigrantInnen mit B-Bewilligung, an schlecht ausgebildete Frauen und wohl demnächst zunehmend an FürsorgeempfängerInnen, die Zwangsarbeit leisten müssen, um noch Sozialbeiträge zu erhalten.

Working Poor als unterbeschäftigt zu bezeichnen, wie es Wallimann suggeriert, halte ich zudem für absurd. Working Poor sind unterbezahlt, nicht unterbeschäftigt. Es fehlt ihnen an gut bezahlter Arbeit. Diese erhalten entsprechend Ausgebildete und insbesondere Männer. In der Aargauer Kirche wurden beispielsweise relativ tiefe Löhne, die den Frauen für Sozialarbeit bezahlt wurden, angehoben und dem Stand der Ausbildung angepasst. Der Anteil der Männer bei der kirchlichen Sozialarbeit ist danach stark angestiegen. Heute verlangen Feministinnen die Umverteilung der anständig bezahlten Arbeit von Männern auf Frauen und die anständige Bezahlung aller Erwerbsarbeit im Bereich der «care economy» (siehe WoZ Nrn. 3 und 8/01).

Heute sind es überdurchschnittlich gut ausgebildete Personen, die sich freiwillig und ehrenamtlich engagieren – nicht nur im karitativ-sozialen Bereich. In der Schweiz haben rund zwei Fünftel der freiwillig und ehrenamtlich Engagierten im Alter zwischen 40 und 54 Jahren eine Tertiärausbildung. In der Tat gibt es demnach ein Klassen- und ein Demokratieproblem. Der Überhang von AkademikerInnen gilt auch für die Politik. Beispielsweise sind heute in der Schweiz praktisch nur noch AkademikerInnen in Gewerkschaftsposten zu finden. Das Gewerkschaftsengagement eines Arbeiters, das ihm ermöglichen würde, später als Gewerkschaftsfunktionär zu arbeiten, gehört der Vergangenheit an.

Veraltete Klischees

Wallimann nimmt Ideologie und Lobhudelei der Neoliberalen und Konservativen in Sachen Freiwilligenarbeit als Ausgangspunkt und polemisiert dagegen. In Wirklichkeit ist aber die Freiwilligenarbeit in der Krise, vor allem im karitativ-sozialen, aber auch im ehrenamtlichen Bereich. Deshalb wird wohl so viel darüber geredet. Jüngere Frauen mit guter Ausbildung sind nicht mehr gewillt, diese Arbeit zu tun – und davon ausser Spesen nichts als schöne Gefühle zu haben und dazu noch für ihr privilegiertes Tun beleidigt zu werden. Da wollen sie schon lieber als beruflich Qualifizierte erwerbsarbeiten und anständig bezahlt ihre Neugier und ihre Weiterbildungsbedürfnisse stillen und dem beruflichen Ehrgeiz frönen, wie es die Männer des Mittelstands und der Upperclass schon immer getan haben.

Kürzlich gab es in St. Gallen eine Veranstaltung, an der 700 Frauen teilgenommen haben. Keine Einzige hat sich für die Arbeitsgruppe mit dem Thema «Freiwilligenarbeit» gemeldet. Deshalb und weil es die Feministinnen in den entsprechenden Institutionen verlangen, wird neuerdings im karitativ-sozialen Bereich über Spesenentschädigung, Weiterbildungsrechte, Qualifikationsausweise und klare Regelungen beim Zeitaufwand geredet. Mindestens sollen die Gepflogenheiten, welche für die ehrenamtliche Arbeit der Männer üblich sind, auch für die karitativ-sozialen Tätigkeiten der Frauen gelten.

Weder mit Wallimanns Text noch mit meiner Entgegnung ist allerdings die Frage geklärt, wie es in Zukunft mit bezahlter und unbezahlter Arbeit weitergehen wird und allenfalls gehen sollte. Ungeklärt ist auch, wer in Zukunft putzt und kocht, zu welchem Preis und unter welchen privaten, wirtschaftlichen oder staatlich verordneten Zwangsverhältnissen.