Von oben herab: Gesicht zeigen

Nr. 33 –

Stefan Gärtner über die wahren Werte von Mario Fehr

Was ist die liberale Gesellschaft? Die liberale Gesellschaft ist eine, die will (genauer: behauptet zu wollen), dass alle nach eigener Façon selig werden, mindestens da, wo es nicht darum geht, morgens um sechs aufzustehen, um dem BIP aufzuhelfen. Deshalb muss ich als Teilnehmer einer liberalen Gesellschaft das alles aushalten: die Männer ohne Deo im sommerlichen Tram, die Vorstadtfrauen mit den chinesischen Schriftzeichen im Nacken, die Kerle im Trainingsanzug mit ihren Kampfkötern, die lärmigen Junggesellen- und -gesellinnenabschiede in lauschigen Altstädten, die Kinderstarshows im Privatfernsehen mit zutiefst Minderjährigen, die von ihren von allen guten Geistern verlassenen Eltern in ein Rampenlicht gezerrt werden, das für eine Zukunft in ebendiesem bürgen soll; muss aushalten, dass alle ihren Müll ins nächste Eck werfen, aus Langeweile Billigklamotten kaufen, für die andernorts gestorben wird und die sie dann nicht anziehen, oder mich auf ihren teuren Sportfahrrädern vom Flanierweg rasen; muss ertragen, dass die grössten Nullen die dicksten Literaturpreise abbekommen und dass allgemein nicht mehr nur das Mittelmass regiert, sondern das Nichts, der Stumpfsinn und die Niedertracht.

Der Vorteil einer Burka, wie sie der rechtslustige Zürcher SP-Regierungsrat Mario Fehr jetzt populärerweise verbieten will, besteht immerhin darin, dass es keine Tattoos zu sehen gibt, und so gern ich es hätte, dass alle Leute ein Deo benutzen und nur mehr Dackel haben und ihre leeren Duschgelflaschen nicht in der Sammeldusche meines Fitnessstudios zurücklassen und sich auf dem Fahrrad so zivilisiert benehmen wie ich ja schliesslich auch, so gern hätte ich, dass keine Frau auf die Idee kommt, sie diene ihrem Gott, indem sie das grosse Schwarze aus dem Schrank holt, und dass auch kein Mann auf die Idee kommt, aus ähnlich erfundenen Gründen eine Frau in ein Ganzkörpergewand zu zwingen. All das wäre schön, wird sich aber im Einzelfall daran stossen, dass ich, leider, niemandem vorschreiben kann, wie er sich zu kleiden hat, und dass der Nachweis, eine trage das, was sie trägt, nicht freiwillig, im Einzelfall schwer zu führen ist. «Wir sollten nicht zulassen, dass einzelne Touristen ihre Frauen total verschleiert durch die Bahnhofstrasse führen. Ich jedenfalls habe für solches Verhalten kein Verständnis», und das habe ich so wenig wie Mario Fehr; es ist aber, fürchte ich, deren Sache. Dass alle immer diese schrecklichen Funktionsjacken tragen, verstehe ich schliesslich auch nicht, und wenn da jetzt wer schreit: Ja, aber solche Jacken bedeuten keine Knechtschaft!, so würde ich erwidern: Doch, tun sie.

Im Übrigen könnte sich Mario Fehr auch mal überlegen, woher eigentlich das viele Geld stammt, das einzelne vollverschleierte Touristinnen in der Zürcher Bahnhofstrasse (oder im Tessin, wo das Burkaverbot schon gilt) ausgeben, wenn nicht aus Öl- oder sonstigen Geschäften, die die liberale Schweiz mit Ländern, wo die Burka gilt, dann vielleicht nicht tätigen sollte.

Aber das ist, ich gebe es zu, eine Quatschidee, denn «eine Gemeinschaft sollte nicht von ihren Werten abrücken» (Fehr), deren zentraler bekanntlich ist, dass Geld nicht stinkt. «In einer liberalen Gesellschaft zeigt jeder sein Gesicht»; und dass mir das von Mario Fehr und ähnlich sozialdemokratischen Überbauarbeitern nicht gefällt, ist dann halt mein Problem.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.