«Reclaim Democracy»-Kongress: Die Diskussion ist dringend nötig

Nr. 6 –

In Basel wurde vergangene Woche von links die Demokratie verhandelt. Ob sie sich zurückerobern lässt, ist derzeit noch fraglich – aber der gut besuchte Anlass machte Mut.

Demokratie ist mehr als ein diffuser Allgemeinplatz: Podium am Basler «Reclaim Democracy»-Kongress. Foto: Frantisek Matous

«Was können wir hier in Westeuropa für die Demokratie in der Türkei tun?», fragte jemand aus dem überfüllten Hörsaal in der Universität Basel. «Ihr dürft die Hoffnung nicht aufgeben», antwortete Eren Keskin von der Grossleinwand. Die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin war live aus Istanbul zugeschaltet und berichtete über ihre prekäre Situation: Über hundert Verfahren laufen derzeit gegen sie, jederzeit könnte sie zu lebenslanger Haft verurteilt werden.

Das Ferngespräch war Teil einer Infoveranstaltung zur Krise in der Türkei, die letzte Woche den Auftakt zum «Reclaim Democracy»-Kongress in Basel bildete. Und es führte unmittelbar vor Augen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Vielerorts muss für sie gekämpft werden. Nicht nur für ihre Institutionen, sondern genauso für ihre symbolische Bedeutung. Auch in Europa erstarken rechtsnationalistische Strömungen, die ein ausgrenzendes und diskriminierendes Demokratieverständnis in Regierungen und Parlamente hineintragen, das zuweilen autoritäre Züge annimmt. Höchste Zeit für die Linke, die entsprechenden Debatten wieder mit einem entschiedenen Profil mitzuprägen. Denn ohne Hoffnung geht es nicht.

Harmonie und knappe Zeit

Zum dreitägigen Basler Kongress eingeladen hatte der linke Thinktank Denknetz. Der Titel «Reclaim Democracy» sprach für ein ambitioniertes Unterfangen: Wir sollen die Demokratie zurückerobern. Und zwar nicht nur von der nationalistischen Deutungshoheit, sondern ebenso von neoliberalen Sachzwängen und marktradikaler Alternativlosigkeit, forderten die VeranstalterInnen. Als diese vor rund einem Jahr mit der Planung des Kongresses begannen, konnten sie allerdings kaum geahnt haben, auf welche akute Aktualität ihr Thema schliesslich treffen würde: Der Brexit, die autoritären Entwicklungen in der Türkei und die US-Wahl sind Anlass zu einer Demokratiedebatte geworden, die nun über das gesamte politische Spektrum hinweg energisch geführt werden muss.

Entsprechend viele Interessierte folgten denn auch dem Ruf des Denknetzes. Insgesamt 1800 TeilnehmerInnen aus sämtlichen Altersschichten fanden über die drei Kongresstage verteilt den Weg an die Basler Uni, um sich für die vier Plenarveranstaltungen und fünfzig Workshops in die oftmals zu kleinen Räume zu zwängen. Schon aus der Programmzeitung war herauszulesen, welcher Aufholbedarf in der Demokratiedebatte innerhalb der Linken besteht: Die wortreichen Ausführungen und Fragestellungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass «Demokratie» zunächst einmal eine Worthülse darstellt, die alles gleichzeitig beschreiben soll, was die Linke vage für richtig hält. Um sich sowohl von der rechten Darstellung der Demokratie als simples Mehrheitsdiktat als auch von wirtschaftsliberaler Konsumdemokratie abzugrenzen, brachten die VeranstalterInnen zwar die konkrete Forderung nach «substanzieller Demokratie» ein – einer Demokratie, die nicht bloss institutionelle Fassade ist, sondern weiter reichend gesellschaftlich verankert. Doch lag es in der Folge an den KongressteilnehmerInnen, diesen flüchtigen Begriff mit Bedeutung zu füllen.

Ein Angebot für ein substanzielles Demokratieverständnis lieferte etwa der ecuadorianische Politiker und Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta. Er beschrieb in seinem Vortrag den Ansatz des «Buen Vivir» (gutes Leben): eine Weltanschauung indigener Gemeinschaften, die ein lebenswertes Leben nicht an materiellem Wohlstand misst, sondern auf der harmonischen Beziehung zwischen Individuen, Gesellschaften und der Natur beruht. In einer selbstzerstörerischen Welt, in der trotz Überproduktion eine Milliarde Menschen unter Hunger leiden, so Acosta, könne das Prinzip des «Buen Vivir» deshalb zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit beitragen. Doch bereits mit dem Begriff «Harmonie» berührte er einen Punkt, den die TeilnehmerInnen der anschliessenden Podiumsdiskussion kritisch aufgriffen: «Wie sollen wir demnach mit Macht und Ungleichheiten umgehen?», fragte stellvertretend die Soziologin Christa Wichterich. «Harmonie allein scheint mir hier nicht zielführend.» Im Hier und Jetzt sind Kämpfe nötig.

Damit traf sie offenbar den Nerv der meisten KongressteilnehmerInnen: In sehr vielen Vorträgen und Diskussionen lag der Fokus weniger auf Utopien des Zusammenlebens als vielmehr auf der Kritik an bestehenden Kräfte- und Machtverhältnissen. In den fünfzig Workshops wurden sie aus den unterschiedlichsten Perspektiven verhandelt: etwa in Bezug auf Ökologie, Bildung, Frauenrechte, Medien, Wachstumskritik, Kolonialgeschichte und Rassismus, Migration, LGBT-Rechte oder Erwerbsarbeit. Vieles war zwar an sich alles andere als neu, doch bald zeigte sich, worin das wahre Potenzial von «Reclaim Democracy» schlummerte: Es war vor allem das Kongresspublikum, das in teils ausschweifenden Diskussionen dazu beitrug, diverse Perspektiven und Denkansätze miteinander zu verknüpfen. Das führte nicht immer zu Ergebnissen, aber zu interessanten Gesprächen. Denn zumindest in der Problemstellung wurde man sich weitgehend einig. Sie lautet: Die Zeit wird knapp. Wenn Klimawandel und globale Ungleichverteilung weiterhin im selben Tempo vorangetrieben werden, nehmen weltweit die Konflikte zwangsläufig zu, genauso wie hiesige Abschottungstendenzen. Unter solchen Umständen dürfte es für ein linkes Demokratieverständnis irgendwann unmöglich sein, breiten gesellschaftlichen Anschluss zu finden.

Kein Garant für Gerechtigkeit

Zu diesen Herausforderungen wurden am Basler Kongress drei Dinge besonders deutlich: Die Antwort muss erstens ganzheitlich ausfallen. Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie lassen sich unmöglich getrennt voneinander denken. Fatal wäre es, diese verschiedenen Kämpfe gegeneinander auszuspielen. Zweitens muss die Antwort in einer globalisierten Welt zwingend auch eine globale Perspektive enthalten. Oder in den Worten von Srecko Horvat von der paneuropäischen Bewegung DiEM25: «Wir brauchen einen radikalen Internationalismus.»

Und drittens darf sich die Linke nicht davor scheuen, eine grundsätzliche Kapitalismuskritik zu formulieren. Auch wenn – oder gerade weil – linke Regierungen in vergangenen Jahren aktiv am neoliberalen Projekt beteiligt waren. Denn wie soll es ohne grundsätzliche Kritik gelingen, an jenen Verhältnissen zu rütteln, die auf lokaler und globaler Ebene bestehende Ungleichheiten zementieren und verstärken? Wie sonst sollen Linke glaubhaft Strukturen bekämpfen, die einem unerbittlichen Wachstumszwang folgen, aber schlussendlich doch einen Grossteil der Menschen von den erwirtschafteten Profiten ausschliessen? «Wir stecken ständig fest in der Frage: Kapitalismus ja oder nein?», sagte dazu der Politikwissenschaftler Ulrich Brand. «Dabei bestehen durchaus Alternativen!»

Solche Alternativen lassen sich gerade entlang von Fragen zur Demokratie ausloten, wie der aufschlussreiche Beitrag des Sozialwissenschaftlers Alex Demirovic zeigte. Unter dem Titel «Was ist Demokratie eigentlich?» legte er dar, dass Demokratie zunächst einmal als ein Modell für Entscheidungsprozesse zu verstehen ist. Auf institutioneller Ebene heisst dies, dass Menschen darüber bestimmen können, welches Recht für sie gelten soll – womit sie aber aus verschiedenen Gründen noch lange kein Garant für klassische linke Gerechtigkeitsvorstellungen ist. Beispielsweise waren Frauen hierzulande enorm lange von demokratischen Prozessen ausgeschlossen, und bis heute ist die Schweiz sehr restriktiv bei der Vergabe des Stimm- und Wahlrechts. Darüber hinaus treffen SchweizerInnen mit demokratischen Mitteln Entscheide, die Menschen in anderen Erdteilen ohne deren Mitsprache zum Teil ganz empfindlich treffen – etwa durch Steuerprivilegien für internationale Unternehmen, durch das Zulassen von Rüstungsexporten, durch Subventionierung der heimischen Wirtschaft.

Demokratie kann also auch dazu beitragen, systematische Privilegierung aufrechtzuerhalten. Laut Demirovic sollte die Linke deshalb davon absehen, den Begriff «Demokratie» als diffusen Allgemeinplatz für alles Erstrebenswerte zu verwenden. Vielmehr gehe es nun darum, Demokratie als Entscheidungsprozess weiterzudenken, sie auszubauen und auch abseits staatlicher Institutionen einzubringen: Entscheidungen sollten dort gefällt werden, wo sie sich auswirkten – insbesondere auch in der Wirtschaft, wo demokratische Prinzipien laut Demirovic ein neues Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage ermöglichen könnten, das abseits von Wachstumszwängen zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit beitrüge.

Als utopische Vorstellung wollte der Sozialwissenschaftler diesen Vorschlag übrigens nicht verstanden wissen: «Vieles entscheiden wir heute bereits demokratisch, auch abseits des Staates. Aber aus irgendwelchen Gründen akzeptieren wir, dass wir in der Wirtschaft nicht mitentscheiden.»

Ein Hauch von Aufbruchstimmung

Beim Abschlussplenum stand schliesslich die Frage im Raum, was man sich aus linker Sicht von den vielen Massenprotesten erhoffen dürfe, die in jüngerer Zeit auf allen Kontinenten vermehrt aufkommen. Sehr viel, meinte zuerst die politische Philosophin Jodi Dean: In ihrem Vortrag sprach sie dem Phänomen der Menschenmasse eine fast schon spirituelle Wirkungskraft zu, während hinter ihr romantische Bilder von Strassenkämpfen auf der Leinwand vorbeizogen. Als Dean für eine starke kommunistische Partei plädierte und letztlich eine antidemokratische Position bezog, hätte man sich gewünscht, dass sie anschliessend von den PodiumsteilnehmerInnen stärker in die Mangel genommen worden wäre. Das passierte zwar nicht, doch zum Glück lieferte der Philosoph und Autor Thomas Seibert einen sehr viel differenzierteren und kritischeren Blick auf die Dynamik von Massenprotesten. Auch wenn man diese nicht verklären dürfe, so trügen sie doch das Potenzial für eine Politik der Brechung des Gegebenen in sich, sagte Seibert.

So standen die Zeichen schlussendlich sogar ein wenig auf Hoffnung, wie es eingangs Eren Keskin gefordert hatte. Sie habe diesen Kongress «inspirierend» gefunden, sagte etwa Tamara Funiciello, Präsidentin der Juso Schweiz. Man mochte ihr zustimmen. Nur schon der grosse Andrang, den «Reclaim Democracy» auslöste, wirkte ermutigend. Eine rege Vernetzung unter den TeilnehmerInnen war feststellbar. Und aus manch einem Gespräch liess sich sogar ein Hauch von Aufbruchstimmung heraushören. Auch wenn damit noch nichts erreicht ist, noch keine Strategien bestehen, die gesellschaftlichen Impulse noch anderswo erfolgen: Als Diskussionsplattform hielt dieser Kongress seine Versprechen. Und er war dringend nötig.