Roma in der Schweiz: «Wir gehören hierher»

Nr. 14 –

Seit 600 Jahren leben sie hierzulande, heute sind 80 000 Roma in der Schweiz sesshaft. Doch immer noch werden sie ausgegrenzt. Zum Internationalen Tag der Roma am 8. April: ein Gespräch mit Stéphane Laederich (55), Direktor der Rroma Foundation.

«Wenn du Romanes sprichst, bist du Rom oder Romni – egal ob als Sinti in Deutschland, Kalderasch in Rumänien oder Calé in Spanien»: Stéphane Laederich in seiner Wohnung in Zürich.

WOZ: Stéphane Laederich, wir wollten dieses Gespräch eigentlich mit einer jungen Romni oder einem jungen Rom führen. Doch wir haben niemanden gefunden, der bereit war, öffentlich hinzustehen und zu sagen: «Ich bin Rom.» Die Furcht, sich zu outen, scheint gross zu sein.
Stéphane Laederich: Ja. Weil man nach wie vor mit Stereotypen konfrontiert wird. Das ist jedem Einzelnen von uns schon mal passiert, auch mir. Sofort kommen Fragen wie: «Kannst du lesen und schreiben?» Oder weniger negativ, aber genauso typisierend: «Du kannst sicher gut singen und tanzen.» Eine Bekannte hat mir kürzlich erzählt, sie habe ihrer besten Freundin erzählt, dass sie Romni sei. Diese antwortete: «Okay, mir ist das egal. Aber meine Eltern werden nicht mehr tolerieren, dass du zu uns nach Hause kommst.» Niemand hat Lust, mit solchen Reaktionen konfrontiert zu werden.

Und Sie, standen Sie von jeher öffentlich dazu, Rom zu sein?
Nein. Es hat mich anfangs überhaupt nicht gekümmert. Zumindest gegen aussen. Innerhalb meiner Familie und unseres Freundeskreises hingegen, da haben wir Romanes gesprochen, die Sprache der Roma, und wir haben unsere eigenen Feste und Traditionen gefeiert. Roma leben in der Regel mindestens in zwei Kulturen. Da ist einerseits die Kultur der Mehrheitsgesellschaft, in der sie leben. Für die meisten Roma entspricht das auch ihrer Heimat, sie fühlen sich in erster Linie als Russen, als Bulgaren oder als Schweizer. Das Romasein ist mehr ein Zusatz.

Ein Zusatz, der unsichtbar bleibt?
In der Regel schon. Und da liegt ein grosses Problem: Bei Roma, die in der Öffentlichkeit als solche sichtbar sind, handelt es sich meist um Bettler, Sexarbeiterinnen, Fahrende.

Es sind also nicht nur Stereotypen, sondern auch Lebensrealitäten.
Natürlich. Aber in welchem Verhältnis stehen sie? In einer Studie der Rroma Foundation zur Medienberichterstattung über Roma in der Schweiz fanden wir heraus, dass höchstens 1000 Roma solche Lebensrealitäten aufweisen. Insgesamt leben schätzungsweise 80 000 Roma in der Schweiz. Es ist also ein verschwindend kleiner Teil, der den Stereotypen entspricht. Es gibt beispielsweise praktisch keine fahrenden Schweizer Roma. Überhaupt ist nur ein Bruchteil der insgesamt über zehn Millionen Roma in Europa fahrend – und wenn, dann hauptsächlich in Westeuropa.

Die Stereotypen und Vorurteile gegenüber Roma halten sich hartnäckig. Wie soll sich das ändern?
Für mich steht ausser Frage, dass die Medien eine zentrale Rolle spielen. In welchen Zusammenhängen wird über Roma berichtet? Kriminalität, Armut, Prostitution, Menschenhandel …

… oder im Zusammenhang mit Grosshochzeiten, die aus dem Ruder laufen, wie im Sommer 2012 im Wallis.
Ein gutes Beispiel. In den Medien wurde dabei das Bild der «dreckigen ausländischen Roma» vermittelt. Kaum irgendwo stand, dass die Roma mehrere Tausend Franken für die Nutzung des Feldes bezahlt hatten – und auf diesem Feld standen viel zu wenige mobile Toiletten für die 800 Hochzeitsgäste. Vor zwei Jahren gab es im Zürcher Unterland ebenfalls eine Grosshochzeit. Die Roma nahmen eigene mobile Toiletten mit – auch wegen der Erfahrungen im Wallis. Darüber war in den Medien kaum etwas zu lesen. Oft wird auch nicht eingeordnet, warum solche Hochzeiten gerade in der Schweiz stattfinden. Wenn eine französische Romni einen italienischen Rom heiratet, liegt die Schweiz nun mal in der Mitte.

Ein Schwerpunktthema Ihrer Stiftung sind die Diskriminierung und Ausgrenzung von Roma. 2014 hat sie eine Studie veröffentlicht, in der auch die WOZ gerügt wurde.
Interessanterweise hat die Studie gezeigt, dass die Stereotypen in den Medien links wie rechts dieselben sind.

Die da wären?
Arm, bettelnd, von patriarchalen und archaischen Strukturen geprägt. Diese Stereotypen finden sich in der «Weltwoche» genauso wie in der WOZ. Der Unterschied liegt in der Auslegung. Rechts heisst es: «Sie kommen und stehlen.» Links: «Die Roma sind Opfer staatlicher Gewalt.»

Ist die Schweiz besonders rassistisch gegenüber Roma?
Das würde ich so nicht sagen. Die Schweizer sind nicht so offen rassistisch wie etwa die Tschechen oder Ungaren. In Prag wurde ich einmal in einem Restaurant vor die Tür gestellt, weil ich am Telefon Romanes gesprochen hatte. Es galt: kein Zutritt für Hunde und Zigeuner.

Was mir hingegen auffällt: In der Schweiz ist vieles erlaubt, was man in anderen Ländern, gerade in Deutschland, nie schreiben könnte. Was der Presserat durchgehen lässt, ist ein Skandal. Als die «Weltwoche» einen Artikel mit dem Titel «Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz» veröffentlichte, rügte der Presserat die Zeitung zwar wegen des Titelbildes – es zeigte einen kleinen Jungen mit einer Pistole in der Hand –, nicht aber wegen des rassistischen Inhalts des Artikels.

Was hält die rund zehn Millionen Roma in Europa zusammen?
Ich sage jeweils, dass sich die Community mit den Deutschschweizer Kantonen vergleichen lässt. Jeder Kanton hat seine eigene Geschichte, seinen Dialekt, seine Traditionen – aber am Ende gehören sie alle zur Schweiz, und die Leute verstehen sich gegenseitig. Wenn du Romanes sprichst, bist du Rom oder Romni – egal ob als Sinti in Deutschland, Kalderasch in Rumänien oder Calé in Spanien. Die Sprache als verbindendes Element ist absolut zentral.

Gehören die Jenischen auch zur Roma-Community?
Nein. Die Jenischen sind eine eigene Gruppe. Sie sprechen kein Romanes und stammen auch nicht ursprünglich aus Indien. Sie sind eine fahrende Gruppe mit Schweizer Ursprung.

Zu welcher Romagruppe zählen Sie sich?
Zu den Chaladytka. Das sind russische Roma. Ein Teil meiner Familie ist während der Russischen Revolution 1917 zunächst nach China geflüchtet. Von dort ging es weiter nach Deutschland. Nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, zog meine Familie weiter in die Tschechoslowakei – und schliesslich in die Schweiz.

Sie haben gesagt, dass es Sie anfangs nicht gekümmert hat, Rom zu sein. Wann hat sich das geändert?
Ich war an der École Polytechnique in Paris, als 1993 in Russland der Putsch gegen Boris Jelzin stattfand. Der ehemalige Ostblock war endgültig zerfallen. Damals realisierte ich, wie schwierig die Situation für Roma in vielen osteuropäischen Ländern war und immer noch ist: Mit der Schliessung von unzähligen staatlichen Fabriken, Bergwerken und landwirtschaftlichen Betrieben verloren viele Menschen – insbesondere unqualifizierte Arbeiter und Arbeiterinnen – ihre Arbeit. Beim wirtschaftlichen Wiederaufbau wurden Roma aus Diskriminierungsgründen häufig nicht mehr eingestellt, besonders in Ungarn, der Slowakei und in Tschechien. Als Resultat gibt es dort heute mindestens zwei Generationen von arbeitslosen Roma.

Vor diesem Hintergrund gründete ich damals die Rroma Foundation, die bis heute vom US-amerikanischen Investor George Soros unterstützt wird. Unser Fokus lag bis Ende der neunziger Jahre fast nur auf Osteuropa. Seit 1999 engagieren wir uns vermehrt in der Schweiz.

Aus welchem Grund?
Viele Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien waren Roma, besonders aus Mazedonien und dem Kosovo. Sie flüchteten vor ethnischen Säuberungen. Wir begannen, diese Flüchtlinge rechtlich zu beraten und zu vertreten, um ihren Aufenthalt in der Schweiz zu ermöglichen.

Zurzeit arbeiten Sie daran, dass die Roma in der Schweiz offiziell als Minderheit anerkannt werden. Würde das tatsächlich etwas nützen?
Wenn sie im Rahmenabkommen zum Schutz der Schweizer Minderheiten anerkannt würden, dann würde erstmals das Bild der Roma als Ausländer wegfallen. Es wäre ein Signal: Wir gehören hierher. Das würde wohl auch mehr Roma dazu veranlassen, sich für die Sache zu engagieren.

Nähere Angaben zu den Veranstaltungen «Roma in der Schweiz» im Rahmen des Internationalen Tags der Roma in Bern finden Sie in der Politour dieser Ausgabe .

Nachtrag vom 11. Mai 2017 : Wider den Antiziganismus in der Schweiz

Jenische, Sinti und Roma sind in der Schweiz noch immer diskriminiert und stigmatisiert: Zu diesem Schluss kommt die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in ihrem «Schattenbericht», den sie zur Umsetzung des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten in der Schweiz verfasst hat.

Zur Erinnerung: 1998 hat auch die Schweiz dieses Rahmenübereinkommen ratifiziert. Heute sind hierzulande sprachliche Minderheiten, Jenische, Sinti und Manouches sowie Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft zumindest auf dem Papier als nationale Minderheiten anerkannt. Ein entsprechender Antrag von Romaorganisationen ist zurzeit in Prüfung.

Um das Rahmenübereinkommen erfolgreich umzusetzen, fordert die GfbV verschiedene Massnahmen: so zunächst die Anerkennung der Roma als nationale Minderheit – wie auch die Anerkennung von Romanes, der Sprache der Roma und Sinti, als nicht territorial gebundene Minderheitensprache; genügend und bedürfnisgerechte Stand- und Durchgangsplätze für alle fahrenden Gemeinschaften – und darin eingeschlossen die Unterbindung von Platzverboten für fahrende Gruppen aus dem Ausland.

Des Weiteren soll Antiziganismus als spezifische Form des Rassismus definiert, offiziell verurteilt und entsprechend bekämpft werden. Auch fordert die Gesellschaft die systematische Vertretung der Jenischen, Sinti und Roma in Entscheidungsprozessen auf Bundes-, kantonaler und kommunaler Ebene. Und nicht zuletzt: Die Geschichte und die Kulturen der Jenischen, Sinti und Roma sollen in die Lehrpläne und in kantonale Schulmaterialien integriert werden – und damit auch die Geschichte der «Schweizer Zigeunerpolitik».

Adrian Riklin

Den ausführlichen Bericht finden Sie auf www.gfbv.ch.