Überwachung: Die Wanze in deiner Tasche

Nr. 35 –

«Ich bekenne, dass ich dieser Regierung kein Vertrauen mehr schenke», schreibt ein erschöpfter Max Frisch kurz vor seinem Tod im Jahr 1991. Es war sein Schlussstrich unter den Fichenskandal, der eben aufgeflogen war. Jahrzehntelang hatte der Staat Hunderttausende Schweizer BürgerInnen, darunter Frisch, ohne rechtliche Grundlage beschattet. Ein Sturm der Entrüstung fegte durchs Land, staatskritische Bewegungen bekamen Aufwind. 1990 wurde die Volksinitiative «S. o. S. – Schweiz ohne Schnüffelpolizei» lanciert. Vor dem Hintergrund einer instabilen politischen Grosswetterlage vollzog sich aber bald ein nächster Klimawandel. Spätestens seit 9/11 wird Überwachung gemeinhin unter «Schutz der Bevölkerung» subsumiert. Neben den Geheimdiensten haben sich zudem die Technologiekonzerne zu hochpotenten Observationsmaschinerien entwickelt. Grundrechte wie der Schutz der Privatsphäre geraten zusehends zwischen die Fronten. Umso wichtiger ist es, das Schicksal dieser Rechte nicht dem Zufall zu überlassen, sondern mit Vehemenz für sie einzustehen.

Heute, am Erscheinungstag dieser Ausgabe, reicht eine Gruppe von sechs Personen beim Nachrichtendienst des Bundes (NDB) ein Gesuch um Unterlassung ein. Dazu gehört auch die WOZ-Redaktorin Noëmi Landolt. Das Gesuch richtet sich gegen das neue Nachrichtendienstgesetz (NDG), das am 1. September in Kraft tritt, genauer gegen die darin verankerte Kabelaufklärung. Das NDG regelt die Kompetenzen des Geheimdienstes und geht hervor aus dem Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS), das nach der Fichenaffäre erarbeitet wurde. Mit dem NDG hat man aber nicht einfach Renovationsarbeiten vorgenommen, sondern massiv ausgebaut.

Mit der Kabelaufklärung verfügt der Geheimdienst nun über ein Werkzeug zur Massenüberwachung. Neu ist der Geheimdienst dazu befugt, sämtliche ins Ausland fliessenden Datenströme abzugreifen und nach Stichwörtern zu durchsuchen. Betroffen ist jeder Facebook-Klick, jede Suchanfrage auf Google, jeder Zugriff auf das GMX-Konto. Gefährdet sind damit auch die Berufsgeheimnisse von Ärzten, Anwältinnen oder Journalisten. Ist die Anonymität der Kommunikation nicht gegeben, kann weder der journalistische Quellenschutz noch das Anwaltsgeheimnis garantiert werden.

Man werde einen weiten Weg gehen, um die Kabelaufklärung aus dem NDG zu kippen, sagt Erik Schönenberger – «notfalls bis nach Strassburg». Der Informatiker ist Mitinitiant und Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für Grundrechte im Internet einsetzt. Im Unterschied zu den anderen BeschwerdeführerInnen, die mit dem Gesuch den Angriff auf das Berufsgeheimnis abwehren wollen, macht Schönenberger seine Betroffenheit als Privatperson geltend und stellt damit klar: Die Kabelaufklärung betrifft uns alle.

So ermutigend ein positives Urteil im Fall dieser Klage wäre, so wirkungslos bliebe es als isoliertes Ereignis. Die Debatte um den Schutz der Privatsphäre im digitalen Raum muss auf mehreren Ebenen geführt werden. Überwachung funktioniert heute nur deshalb so reibungslos, weil wir mit unseren Daten allzu sorglos umgehen. Erstaunlich wenig Aufsehen erregt, dass wir ein Wunderwerk von einer Wanze (das Smartphone) mit uns herumtragen, oder dass unser Facebook-Profil bald als Basis dienen könnte, um unsere Versicherungsprämie zu bestimmen. Konzerne wie Geheimdienste nutzen fehlende Vorsicht gnadenlos aus. Die Kabelaufklärung etwa wäre im Moment kaum ertragreich, würden wir unsere Kommunikation konsequent durch eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung schützen. Da die Technologiekonzerne, deren Produkte wir nutzen, nicht das geringste Interesse an einem effektiven Datenschutz haben, verfügen die wenigsten Dienste überhaupt über  entsprechende Funktionen. Unsere Unmündigkeit ist ihr Geschäftsmodell.

In Zusammenarbeit mit der Digitalen Gesellschaft und dem Chaos Computer Club hat die WOZ deshalb in einem Ratgeber Dienste zusammengetragen, die Verantwortung wahrnehmen. Es sind Alternativen zu Whatsapp und Gmail, zu Facebook und Google Maps. Sie sehen gleich aus, verfügen über ähnliche Funktionen, und doch unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Punkt: Sie überlassen den Schutz unserer Daten nicht dem Zufall. Die «Kurze Anleitung zur digitalen Selbstverteidigung» liegt dieser Ausgabe als Broschüre bei.