Schutzfaktor M: Immer einen Schritt voraus

Nr. 44 –

Was tun, um den Angriff auf die Menschenrechte in der Schweiz abzuwehren? Die Informationskampagne Schutzfaktor M ist ein Paradebeispiel dafür, wie man frühzeitig eine Gegenoffensive einleitet.

Barbara Fry Henchoz, Andrea Huber und Jana Maletic in Bern: Freiheitsrechte sind ein ­urliberales Anliegen.

«Fremde Vögte». Plötzlich war er wieder da, der vorschweizerische Ausdruck. Der damalige Bundesrat Christoph Blocher schleuderte ihn in seiner 1.-August-Rede 2007 erstmals in den Echoraum des 21. Jahrhunderts.

Zehn Jahre später, ein Hinterzimmer im Berner Breitenrainquartier. Von hier aus agiert die Informationskampagne Schutzfaktor M, um die SVP-Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» («Selbstbestimmungsinitiative») zu bekämpfen. Lanciert wurde die Kampagne bereits 2014 – zwei Jahre bevor die Attacke auf die vermeintlichen «fremden Vögte» überhaupt erst eingereicht wurde.

«Immer einen Schritt voraus zu sein, ist Teil der Strategie», sagt Andrea Huber, die Initiantin und Geschäftsführerin. Schon Jahre vor der Ankündigung der SVP sei ihr klar geworden, dass früher oder später ein Angriff auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) kommen werde: «Weil es die letzte Hürde ist, die der Umsetzung menschenrechtswidriger oder -kritischer Initiativen im Weg steht.»

2010 war Huber für mehrere Monate in den USA, wo sie sich gegen die Todesstrafe engagierte. Im selben Jahr wurde in der Schweiz im Zusammenhang mit Sexualdelikten plötzlich wieder ernsthaft über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert. «In diesem Moment habe ich erkannt: Sollte die EMRK als Garantin für einen Mindeststandard unter Druck kommen, muss ich alle meine Kräfte in der Schweiz einsetzen.»

Ihre Mutter sei in Nazideutschland geboren, sagt Huber: «Die Frage, was ich im Zweiten Weltkrieg gemacht hätte, hat mich schon früh beschäftigt. Als Jugendliche habe ich mir geschworen: Ich will so leben, dass ich, wenn ich gross bin, sagen kann: Doch, ich wäre dagegen aufgestanden.»

Vierzig Jahre nach der Ratifikation

Im März 2013, als Toni Brunner die völkerrechtsfeindliche Volksinitiative ankündigte, habe sie sich gesagt: «Jetzt oder nie. Ein Wegfall der EMRK wäre ein Super-GAU für den Menschenrechtsschutz in der Schweiz und eine generelle Schwächung dieses europäischen Mindeststandards, ein verheerendes Signal an europäische Staaten, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen.» Noch im selben Jahr initiierte die Politologin die Arbeitsgruppe «Dialog EMRK», in der NGOs wie humanrights.ch, Amnesty International Schweiz oder die Schweizerische Flüchtlingshilfe präsent waren.

Ab 2014 organisierte der Dialog EMRK runde Tische mit ParlamentarierInnen und begann, die Medien für die Bedeutung der EMRK und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu sensibilisieren. Dabei fiel Huber auf, wie wenig bekannt die EMRK bei vielen war, selbst bei JournalistInnen. Doch die Medienarbeit zeigte Wirkung: Schon im Mai 2014, nach der Veröffentlichung einer juristischen Studie, die der Dialog EMRK in Auftrag gegeben hatte, berichteten viele Medien über die dramatischen Konsequenzen, die eine Annahme der Initiative für die Schweiz haben würde. Am 28. November 2014 – auf den Tag vierzig Jahre nach der Ratifizierung der EMRK durch die Schweiz – startete Schutzfaktor M die Gegenkampagne.

Mittlerweile sind drei weitere Jahre ins Land gezogen. Im Büro im Berner Breitenrain türmen sich die Schachteln. Zwischen all dem Infomaterial hat es gerade noch Platz für zwei Arbeitsplätze.

140 bezahlte Stellenprozente stehen Schutzfaktor M zur Verfügung. Das reicht natürlich nicht, um eine solche Antimenschenrechtsinitiative abzuwehren. Umso wichtiger ist die ehrenamtliche Arbeit der fünf Vorstandsmitglieder. Jana Maletic, die Vorstandspräsidentin, kennt sich als Rechtsanwältin bei der Caritas und ehemalige Beraterin bei der Frauenberatungsstelle Infra mit der Verletzung von Menschenrechten gut aus: «Die Umsetzung des Menschenrechtsschutzes ist auch in der Schweiz nicht perfekt. Viele Minderheiten sind von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Jeder von uns kann je nach Fragestellung zu einer Minderheit gehören.»

Maletics menschenrechtliches Feingespür hat auch familiäre Gründe. Ihr Vater kam Anfang der siebziger Jahre aus Serbien in die Schweiz, ihre Mutter aus Slowenien: «Schon mein serbischer Grossvater hat sich als Rechtsanwalt und Journalist für Menschenrechte eingesetzt, er ist kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs von deutschen Soldaten umgebracht worden. Mein slowenischer Grossvater ist von den Nazis an die russische Front zwangsrekrutiert worden. Und ich selbst wurde als Seconda sensibilisiert.»

Barbara Fry Henchoz wiederum bringt als Nationalökonomin und Beraterin für internationale Unternehmen und NGOs eine weitere Sicht in den Vorstand ein. Ihr Interesse für Menschenrechte wurde in Toronto geweckt, wo sie einige Jahre lebte: «Im nordamerikanischen Raum ist es eine Selbstverständlichkeit, dass du, wenn es dir gut geht, der Community etwas zurückgibst.» Wieder zurück in der Schweiz, engagierte sie sich ab 2015 im Zürcher Komitee von Human Rights Watch und kam so auch mit Schutzfaktor M in Kontakt: «Als Frau aus der Wirtschaft komme ich mit einem Aussenblick und kann sagen: ‹Sorry, das versteht man nicht, wenn man sich nicht schon mit dem Thema auseinandergesetzt hat.›»

Schlüsselerlebnis in Rothenthurm

Es sei ihnen von Anfang an ein Anliegen gewesen, nicht als rein linke Kampagne wahrgenommen zu werden, betont Huber: «Traurigerweise werden die Menschenrechte in der linken Ecke verstaut. Dabei geht es ja um Freiheitsrechte, ein urliberales Anliegen.» Für eine Kampagne, in der es um die Rechte von jeder und jedem gehe, sei es wichtig, auch den Beirat möglichst pluralistisch zu besetzen: «Auch die runden Tische, die wir mit Parlamentariern organisieren, sind immer sehr durchmischt.»

So wie Huber mit resoluter Stimme die Menschenrechte verteidigt, kann man sich gut vorstellen, wie sie selbst an einer SVP-Veranstaltung bestehen könnte. Wie damals vor drei Jahren, als sie mit Maletic die Delegiertenversammlung der SVP in Rothenthurm besuchte: «Mein Schlüsselerlebnis war, dass die Leute in Einzelgesprächen sehr offen für das waren, was wir ihnen sagten. Das hatte auch damit zu tun, dass sie nicht wussten, was für einen Hintergrund wir haben, und uns kein Etikett verpassen konnten. Das gab uns einen Input für die zweite Phase der Kampagne: dass wir zu den Leuten gehen.»

Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung «Meine Geschichte, mein Recht – bewegende Geschichten aus der Schweiz» mit einer Porträtserie des Fotografen Fabian Biasio, die seit der Vernissage vor zwei Monaten in Bern bereits in rund zwanzig Orten gezeigt worden ist.

Ihre bislang plakativste Botschaft landete die Kampagne am 12. August 2016, dem Tag, an dem die SVP ihre Initiative einreichte. Und wieder war man einen Schritt voraus: Eineinhalb Stunden bevor die SVP-Leute die Kisten mit den Unterschriften ins Bundeshaus trugen, standen bereits VertreterInnen der Partnerorganisationen von Schutzfaktor M in der Nähe, um den FotografInnen eine überdimensionale Rote Karte entgegenzuhalten: «Rote Karte für die Anti-Menschenrechtsinitiative».

Vor der entscheidenden Phase

Diesen Winter wird die Initiative wohl im Stände- und im März 2018 im Nationalrat behandelt – und frühestens im September zur Abstimmung kommen. Für Huber steht fest: «Die Initiative ist inhaltlich widersprüchlich. Sie trägt nicht zur Klärung des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht bei, wie sie vorgibt, sondern schafft vor allem Unsicherheit.»

Unterstützung erhielt Schutzfaktor M unlängst von Nils Muiznieks. Der Menschenrechtskommissar des Europarats hat in seinem Bericht den Bundesrat dazu aufgefordert, einen Mechanismus zur Vereinbarkeit von Volksinitiativen und internationalen Vereinbarungen zu entwickeln, der die Menschenrechte schützt.

Derzeit beobachten Huber und ihre MitstreiterInnen, was im Bundeshaus abläuft. Dieser Tage wird die Initiative in der Staatspolitischen Kommission des Ständerats diskutiert. Bis April 2018 soll die Struktur des Vorstands und der Geschäftsstelle gestärkt und das Spektrum der über hundert Partnerorganisationen so erweitert werden, dass man für die eigentliche Abstimmungskampagne parat ist. Über die Kommunikationskanäle all dieser Kinder-, Behinderten-, SeniorInnen-, kirchlichen und vieler weiterer Organisationen, ist Huber überzeugt, «können wir einen grossen Teil der Stimmberechtigten persönlich erreichen. Das hat eine grössere Schlagkraft als eine Gratiszeitung in den Briefkästen.»